Der schlafende Engel
sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Es ist eine dunkle Zeit, April.«
Sie nickte. In diesem Punkt würde sie ihm gewiss nicht widersprechen. Einen Moment lang überlegte sie, ihm von der Tierzunge zu erzählen, die Jessica zugeschickt bekommen hatte, doch dann fiel ihr etwas Wichtigeres ein.
»Darf ich Sie etwas fragen, Mr Gordon?«
»Natürlich.«
»Ich muss immer wieder an Isabelle denken. Isabelle Davis. Sie haben mir doch erzählt, sie hätte sich wegen eines Buches an Sie gewandt.«
Als April bei der Suche nach dem Liber Albus nach St. Michael’s gekommen war, hatte der Pfarrer ihr erzählt, auch Isabelle sei bei ihm gewesen und habe nach demselben Buch gesucht.
»Ja, natürlich. Isabelle, das arme Ding. Was ist mit ihr?«
»Sie war in der Buchhandlung, von der Sie mir erzählt haben, und hat mit der Besitzerin gesprochen. Sie hatte den Eindruck, dass ihre Absichten nicht die besten waren.«
Mr Gordon runzelte die Stirn.
»Isabelle hatte ihre Probleme, daran besteht kein Zweifel, und ich hatte auch Angst, sie könnte sich mit den verkehrten Leuten eingelassen haben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, jemand benutzt sie … nein, das ist nicht das richtige Wort dafür … Es war eher, als beeinflusse sie jemand. Vielleicht ein Mann, mit dem sie zusammen war. Könnte das sein?«
April zuckte mit den Achseln. Das wäre durchaus möglich. Sie musste zugeben, dass sie, abgesehen von dem Wenigen, was Jessica ihr erzählt hatte, nicht viel über Isabelle wusste.
»Was könnte sie vorgehabt haben? Mit diesem Buch und all dem?«
»Okkultismus.«
»Okkultismus? Sie meinen Teufelsanbetung und solche Dinge?«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
»Nein, es war eher so, als hätte sie irgendwelchen albernen Unsinn über Flüche und Zaubertränke im Kopf. Soweit ich es beurteilen kann, glaubte sie ernsthaft, dass sie wirken. Dass sie ihr zu Reichtum und Macht verhelfen.«
»Aber Sie glauben nicht daran?«
Er verzog das Gesicht zu einem ironischen Lächeln.
»Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.«
»Das stammt aus Hamlet, stimmt’s? Wir haben das Stück erst letztes Halbjahr durchgenommen.«
Mr Gordon lächelte.
»Ich glaube fest daran, dass es eine ganze Menge dort draußen gibt, was wir nicht verstehen können – zumindest in diesem Punkt waren dein Vater und ich uns einig –, aber sollte Magie tatsächlich existieren, betrifft sie uns alle, nicht nur einige wenige Auserwählte.«
April nickte. Natürlich hatte er vollkommen recht – Vampire existierten, und obwohl sie im Vergleich zur restlichen Menschheit nur eine Handvoll waren, stellte ihre Existenz eine Bedrohung für die gesamte Weltbevölkerung dar. Diese wenigen Blutsauger konnten das Gleichgewicht auf der Erde ganz empfindlich stören. Und es stimmte auch, dass es eine Menge Dinge gab, die nicht einmal sie begreifen oder rational erklären konnte. So wie den Grabpfleger, zum Beispiel.
»Sie halten sich doch häufig auf dem Friedhof auf, Mr Gordon. Ist Ihnen je jemand aufgefallen? Jemand, der nicht dort sein sollte?«
»Du redest von den Vandalen?«
»Nein. Ich rede von Dingen, die nicht dort sein sollten.«
Er lachte nervös.
»So etwas wie Gespenster?«
»Na ja. So etwas in der Art, aber … irgendwie auch wieder nicht. Wie der Grabpfleger, den ich gesehen habe.«
Er blieb stehen und sah sie an.
»Natürlich«, sagte er leise. »Geister, Gespenster, völlig egal, wie die Leute sie nennen, aber definitiv Dinge, die sich nicht erklären lassen.«
»Wirklich? Sie haben wirklich etwas gesehen?«
Der Pfarrer lachte leise.
»Ich bin nicht der Einzige, April. Wenn du im Internet recherchierst, wirst du feststellen, dass die Leute seit Jahrzehnten immer wieder unerklärliche Dinge auf dem Friedhof gesehen haben. Denk nur an diesen Unsinn über den ›Highgate Vampir‹. All das fing nur an, weil irgendjemand eines Nachts eine ›Spektralmaterie‹ beobachtet hat. Zweifellos handelt es sich bei der Mehrzahl dieser Sichtungen um optische Täuschungen, die entweder von einer überbordenden Fantasie oder der Tatsache herrühren, dass es ringsum massenhaft Häuser gibt, in denen es spuken soll, wie The Gatehouse oder das Rose and Crown.«
»Aber was haben Sie beobachtet, Mr Gordon? Wieso glauben Sie mir, obwohl es niemand sonst tut?«
»Weil ich viel zu viel gesehen habe, um es leugnen zu können, April. Das wäre dumm von mir.«
Eine Woge der Erleichterung durchströmte sie. Einen Moment
Weitere Kostenlose Bücher