Der schlafende Engel
mir. Offenbar kennst du ja all die Antworten bereits.«
Mein Gott , dachte sie. Gabriel mochte hundert Jahre oder noch älter sein, trotzdem führte er sich wie ein trotziger Teenager auf. Sie musste es mit einer anderen Strategie versuchen.
»Ich mache dir doch keinen Vorwurf, Gabe«, sagte sie und nahm seine Hand. »Ich stehe auf deiner Seite, schon vergessen? Es ist nur … du wolltest den Jungen umbringen.«
»Calvin ist kein Junge, April. Er ist ein Vampir, ein eiskalter Killer. Der Kerl ist fünfzig oder gar hundert Jahre alt und wartet nur auf eine Gelegenheit zu töten. Glaub bloß nicht, er hätte dich unbeschadet nach Hause gehen lassen.«
»Ich weiß selbst, dass er ein übler Bursche ist, schließlich habe ich miterlebt, was er mit Ling angestellt hat. Vielleicht hat er noch andere Mädchen vergewaltigt oder Hunderte Menschen getötet, aber …«
»Aber was?«
»Ach, keine Ahnung«, sagte sie. »Mag sein, dass alle Vampire oder zumindest diese Sorte zerstört und verjagt werden müssen, und vielleicht gibt es auch keine andere Möglichkeit, sie loszuwerden, trotzdem ist es nicht unsere Aufgabe, Gabriel. Wir müssen den Vampirkönig finden. Wir müssen herausfinden, wo die Schlange ihr Nest hat, und ihr den Kopf abschlagen. Wenn wir Glück haben, sterben dann auch die anderen Vampire, keine Ahnung. Aber wir sind keine Henker. Wir können sie nicht alle töten.«
»Aber du bist die Furie, April«, wandte Gabriel ein. »Du bist die Einzige, die sie zerstören kann.«
Sie nickte.
»Genau das dachte ich auch immer. Als du mir das erste Mal dieses Geburtsmal hinter meinem Ohr gezeigt und mir alles erklärt hast, dachte ich auch, ich müsste die Vampire eigenhändig erledigen. Aber jetzt denke ich das nicht mehr. Ich glaube vielmehr, die Furie zu sein, bedeutet, mit der Fahne an vorderster Front zu stehen und ›Attacke!‹ zu rufen. Man braucht keine besonderen Kräfte zu haben, sondern nur derjenige sein, der sich ins Getümmel stürzt und den anderen den Mut verleiht, sich zu wehren.«
»Den Mut, zu sterben?«
»Vielleicht auch das, Gabriel«, sagte sie, inzwischen verärgert. »Vielleicht wird es so weit kommen. Lass uns den Tatsachen ins Auge blicken – es sieht nicht allzu gut für uns aus, völlig egal, aus welcher Perspektive man die Situation betrachtet. Wie oft wurde ich inzwischen angegriffen? Aber lieber ich als diese dussligen Ravenwood-Kids.«
»Willst du mir erzählen, dass du in Wahrheit gar nicht gerettet werden wolltest?«
Herrgott, dieser Mann konnte einen wirklich auf die Palme bringen!
»Ich wollte nicht, dass du ihn ertränkst, das ist richtig. Ihm eins auf die Nase geben oder ihn ein bisschen herumschubsen, okay, aber Gabe …« Sie sah ihm in die Augen. »Ich musste dich regelrecht anflehen, ihn am Leben zu lassen.«
»Weil ich ein Killer bin, April. Genau das bin ich«, schnauzte er sie an. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und Trauer.
April sah zu den Mädchen am anderen Ende des Waggons hinüber, doch sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mitzubekommen, was Gabe gerade gesagt hatte.
»Du behauptest, dass du mich liebst, und das hier bekommst du.« Er spreizte die Hände. »Ich wollte diese …. Kreatur töten. Ich wollte, dass er strampelt und um sich tritt. Ich wollte, dass er tot ist. Wir sind Monster, April. Willst du allen Ernstes dein Leben an der Seite eines Tiers wie mir verbringen?«
Tränen standen in seinen Augen.
»Ja«, sagte sie schlicht und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. »Ja, Gabriel, genau das will ich. Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, was du bist, aber ich weiß auch, dass das längst nicht alles ist. Du bist etwas Besseres als das.«
»Bin ich das?«, fragte er und wich zurück. »Glaubst du das? Oder wünschst du es dir bloß? Ich bin kein edelmütiger Barbar, den du mit deiner Liebe retten kannst. Ich bin genauso wie sie – ich will mich in menschlichem Blut suhlen.«
Diesmal hatten die Mädchen ihn gehört.
»He, Alter, schalt mal ’nen Gang runter«, rief eine, woraufhin die anderen in schrilles Gelächter ausbrachen.
April packte seine Hand und zog ihn ein Stück weg.
»Das weiß ich, Gabriel«, sagte sie. »Ich kann weiß Gott nachvollziehen, wie du dich fühlst.«
»Ach ja?«
April lächelte freudlos.
»Was habe ich denn gerade eben getan? Ich habe diesem Jungen – diesem Tier – mit der Bierflasche eins übergezogen! Wenn so etwas wie heute passiert, spüre ich, wie ich diese
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