Der schlafende Engel
dabei bauen die meisten nichts als Mist.
»Dein Vater war derjenige, der alle wichtigen Entscheidungen getroffen hat«, fuhr Silvia fort. »Er war der Stärkere von uns. Die Leute haben ihn ausgelacht und behauptet, er stehe unter dem Pantoffel, aber das stimmt nicht. Er hat bestimmt, wo es langgeht. Und als er weg war, hatte ich plötzlich niemanden mehr, mit dem …« Sie starrte auf ihre Hände und schluchzte. »Ich hatte plötzlich niemanden mehr zum Reden.«
»Oh Mum.« April trat zu ihr und legte die Arme um sie. »Sei doch nicht albern. Du hast mich, du hast Grandpa, Luke und ungefähr eine Million Freunde.«
Das Problem war nur, dass es eigentlich nicht stimmte. Zumindest was sie betraf. Statt für ihre Mutter da zu sein, war sie egoistisch und gemein zu ihr gewesen. Okay, in gewisser Weise hatte Silvia es nicht besser verdient, aber im Grunde ihres Herzens wusste April, dass sie ihr keine gute Tochter gewesen war.
»Das weiß ich, aber mit euch konnte ich nicht reden. Nicht so, wie ich es mit deinem Dad getan habe. Für dich sah es immer so aus, als würden wir ständig streiten, aber … das ist der Grund, weshalb ich nicht aus Highgate weg konnte. Ich wollte Will nicht verlassen. Ich habe ihn weiß Gott oft genug im Stich gelassen, aber ihn hier zurückzulassen, ganz allein, das habe ich nicht über mich gebracht.«
»Mum, ich liebe dich«, sagte sie.
»Aber du kommst nicht mit, stimmt’s?«
»Nein, ich kann nicht. Wahrscheinlich verstehst du das nicht, aber es gibt zu viel, was ich hier aufgeben und zurücklassen müsste. Die Leute brauchen mich. Ich bin nicht sicher, ob ich viel ausrichten kann, aber ich muss es zumindest versuchen.«
»Du redest von Gabriel.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Zum Teil, ja. Ich liebe Gabriel. Und bevor du etwas sagst – was uns verbindet, ist nicht nur eine Teenagerliebe.«
Silvia hob die Hand.
»Kann sein, dass ich nicht mal ein Ei kochen oder mir das Datum des Elternsprechabends merken kann, aber ich weiß, wie es im Herzen eines jungen Mädchens aussieht. Ich weiß, dass es sich für dich real anfühlt.«
April wollte protestieren, doch Silvia fuhr fort.
»Ich will es nicht verharmlosen, sondern nur sagen, dass sich Liebesgeschichten immer richtig anfühlen, absolut perfekt – bis zu diesem schrecklichen Moment, wenn sie es nicht mehr tun und man begreift, wie sehr man sich in diesem Mann geirrt hat. Das ist das Tragische an der Liebe. Jede Beziehung ist falsch, bis man dem Richtigen begegnet. So klischeehaft es auch sein mag, aber man muss tatsächlich einige Frösche küssen, sonst findet man nie seinen Prinzen.«
»Gabriel ist der Richtige für mich, Mum.«
»Das hoffe ich. Von ganzem Herzen sogar. Aber …«
»Aber was?«
»Du wolltest wissen, wieso ich erst jetzt wegziehen möchte. Wieso ich so lange mit der Entscheidung gewartet habe.«
Silvias ernste Miene ließ April bereits ahnen, dass ihr nicht gefallen würde, was sie gleich zu hören bekam.
»Vor zwei Tagen wurde ein Junge auf dem Gartentor aufgespießt gefunden. Sein Blut schwamm in einer Lache auf dem Boden. Und sieh dich an – dir geht’s gut.«
April lachte nervös.
»Gut geht es mir ganz bestimmt nicht …«
»Doch, April. Und ich kann dir gar nicht sagen, was für eine Angst mir das einjagt. Jede andere Siebzehnjährige würde nach so einem Ereignis in Tränen aufgelöst in der Ecke sitzen, hätte Albträume und Schreikrämpfe und bräuchte für den Rest ihres Lebens eine Psychotherapie. Aber an dir perlt all das komplett ab. Du gehst zurück in die Schule, als wäre nichts passiert.«
»Wärst du so oft angegriffen worden wie ich …«
»Genau davon rede ich. Und deshalb dachte – nein, wusste – ich schon die ganze Zeit, dass wir hier weg müssen. Highgate und alles, was hier passiert ist, hat dich verändert.«
April wusste, dass sie völlig recht hatte, aber was sollte sie tun? Wollte sie die Furie sein? Ganz bestimmt nicht. Wollte sie über die Vampire Bescheid wissen? Natürlich nicht. Wer würde schon wissen wollen, dass er von untoten Killern umgeben ist? Aber sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen und wieder die alte, unschuldige April Dunne sein. Natürlich hatten die Ereignisse ihre Spuren hinterlassen, aber sie konnte es nun einmal nicht ändern.
»Und was hast du jetzt vor?«
Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Silvias Antwort; sie hatte keine Ahnung, ob sie es ertragen könnte, wenn Silvia tatsächlich nach Schottland zurückkehren
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