Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schlafende Engel

Der schlafende Engel

Titel: Der schlafende Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia James
Vom Netzwerk:
ich von der Lebensversicherung deines Vaters ausbezahlt bekomme, können wir uns etwas Schönes in Merchiston kaufen. Ich habe mir im Internet schon ein paar Objekte angesehen, aber natürlich entscheiden wir gemeinsam.«
    April spürte Wut in sich aufsteigen.
    »Statt vor einem Jahr auf mich zu hören, hast du einfach gewartet, bis unsere Familie auseinandergerissen wird, mein Vater tot ist und du als Ehebrecherin entlarvt wirst? Und dann beschließt du, dass wir nun doch wegziehen?«, fragte sie fassungslos.
    Es war gemein von ihr, so etwas zu sagen, aber April konnte ihre Wut nicht länger zügeln. Wie konnte sie so etwas tun? Wie konnte Silvia eine so wichtige, lebensverändernde Entscheidung treffen, ohne sie einzuweihen? Na schön, April war zu ihrem Großvater gezogen, aber das war nicht der Punkt. Ihre Mutter behandelte sie immer noch wie einen Gegenstand, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es April dabei ging.
    »Ich weiß, dass du wütend bist, April«, sagte Silvia. »Aber ich glaube, einen klaren Schnitt zu machen und zurück nach Schottland zu gehen, bevor noch Schlimmeres passiert, ist für uns alle die beste Lösung.«
    »Die beste Lösung für dich , meinst du. Aber was ist mit mir? Ich habe Freunde hier, Verpflichtungen. Ich habe mir ein Leben aufgebaut.«
    »Ich weiß, dass du hier einige Freundinnen hast, und natürlich auch Gabriel. Und ich verstehe auch, dass du dich nicht von ihm trennen willst. So unsensibel bin ich nun auch wieder nicht. Aber nächstes Jahr gehst du ohnehin auf die Uni, Schatz, und wirst viele neue Freunde finden.«
    »Darum geht es doch gar nicht!«, schrie April. »Du kannst nicht einfach so über mein Leben bestimmen, Mutter! Du hast mich gezwungen, aus Edinburgh wegzugehen, und jetzt sollen wir nur aus einer albernen Laune heraus einfach wieder zurück?«
    »Nein, April«, widersprach Silvia. »Das ist keine alberne Laune, sondern eine sehr ernste Sache. Vor Großvaters Haus wurde ein Junge ermordet. Du bist hier eindeutig nicht sicher.«
    »Oh, und darauf kommst du jetzt, ja? Wie kann es sein, dass der Mord an einem fremden Jungen eine ›ernste Sache‹ ist, der Anblick, wie mein Vater vor meinen Augen brutal abgeschlachtet wird, aber nicht? Wieso hast du damals nicht vorgeschlagen, dass wir zurückgehen? Und was ist mit all den anderen Vorfällen? Mehrere Male hat man versucht, mich umzubringen. Ganz im Ernst, Mum, wieso dachtest du damals nicht ›äh, vielleicht ist meine Tochter hier nicht sicher‹?«
    »Ja, rückblickend betrachtet, hätte ich …«
    »Rückblickend betrachtet? Herrgott noch mal, Mutter! Du solltest dich mal hören. Ein Mann wollte mich bei lebendigem Leib verbrennen, ein anderer hat versucht, mich zu töten – zweimal! Wieso bist du nicht damals schon auf die Idee gekommen, dass ich in großer Gefahr schweben könnte, solange wir hier sind?«
    In diesem Moment begriff April, weshalb sie so wütend auf Silvia war. Nicht weil sie als Mutter auf ganzer Linie versagt hatte, weil sie unnahbar und niemals greifbar war, und auch nicht, weil sie sie alle durch ihre Affäre verraten hatte – nein, sie war so wütend auf sie, weil sie sie nicht von hier weggebracht hatte. Denn genau das war doch die Aufgabe einer Mutter, oder nicht? Selbst die lausigsten Mütter verspürten den Drang, ihr Kind um jeden Preis zu beschützen. April begriff, dass sie sich die ganze Zeit danach gesehnt hatte: dass ihre Mutter eines Morgens aufwachte und dachte »Pfeif drauf, wir ziehen hier weg. Du bist mir wichtiger als alles andere hier. Wir gehen nach Schottland, auf die Kanalinseln, nach Frankreich oder nach Jamaica, völlig egal, Hauptsache weg aus diesem Kaff, wo der Tod an jeder Ecke lauert.« Aber genau das hatte sie nicht getan.
    Silvia öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne ein Wort zu sagen. Beim Anblick ihrer bestürzten Miene wäre April um ein Haar weich geworden.
    »Ich … ich habe es ja versucht«, stammelte Silvia. »Aber ich …« Sie sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. »Ich wusste einfach nicht, was ich tun soll.«
    Oh Gott , dachte April. Noch eine schreckliche Enthüllung, die sie eigentlich nicht hören wollte. Silvia hatte sie nur deshalb nicht aus Highgate weggebracht, weil sie nicht dazu in der Lage gewesen war – aus Egoismus und der völligen Unfähigkeit, so etwas wie Muttergefühle zu entwickeln. Man geht immer davon aus, dass Eltern stark sind, regelrechte Übermenschen, die stets wissen, was zu tun ist,

Weitere Kostenlose Bücher