Der schlafende Engel
Auswertung abgenommen; wahrscheinlich hätten sie als Beweismaterial dienen sollen, wenn sie seinen Mörder gefunden hätten. Nicht dass es jemals soweit gekommen wäre , dachte sie verbittert. Zumindest hatten sie sie zurückgebracht, wenn auch erst, nachdem sie sich vermutlich von allem Kopien für ihre Akten gemacht hatten – keine sonderlich angenehme Vorstellung; fast so, als spähe einem ständig jemand über die Schulter.
Sie blätterte die Zettel durch, bis sie fand, wonach sie suchte. »23.11.88 – 14.2.93« stand in Daddys Handschrift darauf.
Dieser Zettel war ihr im Gedächtnis geblieben, weil es sich bei der zweiten Ziffernfolge um ihr Geburtsdatum handelte. Doch nun galt ihr Interesse dem anderen Datum. Sie griff nach einer Zeitung, riss ein Stück von einer Seite ab und notierte es.
Als sie alle Sachen wieder verstaut hatte, schob sie den Koffer unters Bett zurück und lief die Treppe hinunter in die Küche – auch dort herrschte das Chaos, und überall stand schmutziges Geschirr herum. Sie nahm das Telefonbuch, schlug die Seite auf und fuhr mit dem Finger die Namen nach, ehe sie nach dem Hörer griff.
»Mr Gordon?«, stieß sie atemlos hervor.
»Ja. Am Apparat.«
»Hier ist April. April Dunne.«
»Oh, April, wie geht’s?«, fragte er, doch April hatte nicht angerufen, um mit ihm zu plaudern.
»Sie sagten doch, Isabelle Davis sei so ein nettes Mädchen gewesen und hätte im Kirchenchor gesungen und all das.«
»Ja, das stimmt. Wieso fragst du?
»Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie ihren Begräbnisgottesdienst gehalten haben.«
»Ich fürchte, nicht«, antwortete er argwöhnisch. »Ihre Familie stammt zwar aus der Gegend, aber … na ja, angesichts der Umstände ihres Todes waren ihre Eltern nicht gerade versessen darauf, sie ausgerechnet auf diesem Friedhof zu begraben. Ich glaube sogar, sie hatte eine Feuerbestattung in Golders Green. Reverend Brice ist der Pfarrer dort. Ich kenne ihn und könnte ihn fragen, wenn du willst.«
»Nein, nein, ist schon okay«, gab April enttäuscht zurück.
»War das der Grund für deinen Anruf?«
»Oh, ich dachte nur, Sie kennen vielleicht ihr Geburtsdatum, weil es auf dem Grabstein steht oder so.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. »Bleib einen Moment dran, bitte …«, sagte er. Einige Sekunden vergingen, dann kehrte er an den Apparat zurück.
»23. November 1988.«
Mit klopfendem Herzen blickte April auf den Zettel in ihrer Hand. Es war dasselbe Datum.
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie. »Ich meine, wie haben Sie das so schnell herausgefunden?«
Der Pfarrer lachte leise.
»Computer, April. Echte Wunderwerke, nicht? Seit einiger Zeit haben wir alles in einer Datenbank abgespeichert.«
»Aber wie kommt es, dass Sie auch Isabelles Geburtsdatum in Ihrer Datenbank haben?«
»Vor einigen Jahren hat die Diözese die Daten der Kirchengemeinden online gestellt. Zum einen, weil der Bischof recht progressiv ist, aber auch wegen dieser blöden Fernsehsendung, in der irgendwelche prominenten Menschen ihren Stammbaum ermitteln. Wir wurden regelrecht mit Anfragen überrannt und mussten stundenlang die Kirchenbücher durcharbeiten. Das Ganze hat viel zu viel Zeit in Anspruch genommen, deshalb haben wir einen Großteil davon online gestellt.«
»Und Isabelles Daten sind dort verzeichnet, weil sie in der Gegend gestorben ist?«
»Nein, weil sie in der Kirchengemeinde geboren wurde.«
Natürlich! April kam eine weitere Idee. In jener verhängnisvollen Nacht hatte Robert Sheldon doch etwas gesagt – etwas über einen Zufall.
»Und wie weit reichen die Aufzeichnungen zurück, Mr Gordon?«, fragte sie mit einer Mischung aus Angst und gespannter Erregung.
»Oh, bis zum Beginn. Wir haben sogar ein Team aus den Staaten eingeflogen, damit sie alles erfassen«, erklärte er stolz. »Sie haben alles durchgearbeitet, sämtliche Pergamente, alles, was wir hatten.«
»Könnten Sie noch etwas für mich nachsehen? Noch einen Namen. Von jemandem, der 1887 auf dem Friedhof begraben wurde?« April hatte keinerlei Mühe, sich das Jahr zu merken – es war das Jahr von Gabriels Verwandlung.
»Natürlich. Wenn du mir verrätst, worum es geht.«
»Das kann ich leider nicht, Mr Gordon, aber es könnte wichtig sein. Sogar sehr wichtig.«
Er hielt inne.
»Na gut, gib mir den Namen.«
»Lily … Oh.« Erst in diesem Moment ging ihr auf, dass sie Lilys Nachnamen gar nicht kannte. Und nur anhand des Vornamens würde der Pfarrer sie nicht in der
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