Der schlaue Pate
Ingrid, »der sich für befangen erklärt hat.«
Um Viertel vor zwei wurde der Protokollführer von einem Justizbeamten zu seinem Sitz geleitet, überraschenderweise blind, schwarze Brille, weißer Stock, altmodisches Hemd, schlecht sitzende Jeans. Er streifte eine schwarze Robe über, setzte sich und wirkte sehr gelangweilt.
»Geht das denn?«, wisperte Desirée.
»Dass er blind ist? Jedenfalls macht der das schon seit Jahren.«
Desirée fiel jetzt erst auf, dass auch das Publikum Alltagsklamotten trug. Sie hatte, was selten vorkam, ein schickes Kleid angezogen und kam sich völlig overdressed vor, was ihr aus einem Grund, den sie selbst nicht kannte, immer peinlicher war als das Gegenteil. Selbst Ingrids Kleidung war von zurückhaltenderer Eleganz.
Um zehn vor zwei betraten die Nebenkläger den Gerichtssaal und setzten sich unten an die lange Bank: Jürgen Kaiser, der jüngere von Ellen Kaisers zwei älteren Brüdern, und ihre Tochter Sophie sowie eine Anwältin. Während die Anwältin, ein dickliches Wesen in einem unvorteilhaften Kostüm mit grauer Dauerwelle und Lesebrille, Akten aus einem Koffer vor sich aufschichtete, wisperte Jürgen Kaiser auf seine Nichte ein, die ernst und mit zusammengepressten Lippen nickte.
Hübscher als ich, konnte Desirée sich nicht versagen zu denken, aber tatsächlich kein Vergleich mit ihrer toten Mutter. Sie wirkte angespannt, aber gefasst. Jürgen Kaiser ließ von ihr ab, musterte das Publikum und nickte einigen Leuten entschlossen zu, die neben und hinter Desirée und Ingrid saßen. Ein älteres Ehepaar, vermutlich der andere Bruder mit seiner Frau, die beiden Exmänner und drei Frauen um die fünfzig nickten genauso entschlossen zurück. Sophie Kaiser starrte vor sich hin. Für die gilt es jetzt, dachte Desirée: ob sie bekommen werden, was sie für Gerechtigkeit halten, oder nicht. Sie konnte sich gut in ihre Lage versetzen, und sie taten ihr leid.
Danach schlenderten Professor Rind und ein weit jüngerer Herr in den Saal, beide im Anzug und in ein angeregtes Gespräch vertieft. Der Jüngere war der psychiatrische Gutachter der Anklage, ein akademisch wirkender Typ mit Lockenkopf und runder Brille. Desirée hatte googeln müssen, was eigentlich der Unterschied zwischen Psychologe und Psychiater ist, und war auf einen lustigen Spruch gestoßen: Zum Psychologen gehst du, wenn du weißt, dass du ein Problem hast; zum Psychiater musst du, wenn du nicht weißt, dass du ein Problem hast. Der Psychiater ist Arzt und kann Medikamente verschreiben, der Psychologe nicht, er ist fürs Gespräch da.
Verteidigung und Anklage waren beide bei ihrer Wahl clever gewesen. Der forensische Psychologe zieht seine Schlüsse aus Gesprächen mit dem Angeklagten; der forensische Psychiater kann Schlüsse auch aus körperlichen Untersuchungen und Beobachtungen eines Angeklagten ziehen, der nicht mit ihm reden will, wie in Baginskis Fall. Die beiden setzten sich unten an die lange Bank, der Psychiater nahm neben Sophie Kaiser Platz und nickte ihr aufmunternd zu. Sie reagierte nicht.
Kurz hintereinander betraten vier Männer in Anzügen und eine Frau im Kostüm den Saal. Andreas und Björn Spohr, der einen Rollkoffer hinter sich herzog, stapelten Aktenberge auf der Verteidigerbank, die beiden Staatsanwälte aus Frankfurt, Reinhard Krieg und Melanie Goldmann, taten das Gleiche auf den vordersten Plätzen der langen Bank. Der Fünfte war der Rechtsmediziner aus Göttingen in Niedersachsen, aber dort war das nächstgelegene rechtsmedizinische Institut, ein dürrer kleiner Kerl mit schlohweißem Haar im schwarzen Anzug, der Desirée vorkam wie der Comic-Bestatter, der mit erwartungsfrohem Grinsen an einem ahnungslosen Lucky Luke Maß nimmt. Er setzte sich ganz unten neben Professor Rind.
»Das sind alles die sogenannten Prozessbeteiligten«, flüsterte Ingrid Desirée zu.
Nachdem sie ihre Akten gerichtet hatten, traten Andreas und Spohr von der Verteidigerbank vor, gingen quer durch den Saal zur Anklage- und Sachverständigenbank und schüttelten reihum Hände, nur Jürgen und Sophie Kaiser ignorierten die Gegenseite und blieben sitzen. Leiser Small Talk, gelegentlich war verhaltenes Lachen zu hören. Man kannte sich, man war kollegial, auch wenn man gleich Gegner sein würde. Dann traten alle wieder hinter ihre Plätze, die Juristen legten ihre Roben an.
Um fünf vor zwei betraten drei Justizbeamte, von denen zwei vorhin die Einlasskarten kontrolliert hatten, den Saal, zwei verschwanden
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