Der schlaue Pate
Fotografen waren da, alle wütend flüsternd, weil ihnen bereits mitgeteilt worden war, dass die Richterin Bilder des Angeklagten oder des Prozesses untersagt hatte. Der Zeichner der HNA strahlte übers ganze Gesicht: Alle Sender und Zeitungen mussten sich mit seinen Zeichnungen behelfen.
Vor einer verschlossenen Tür standen zwei Justizbeamte lässig herum. Sie sahen fast genauso aus wie Polizisten, dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd, nur ein Aufnäher an einem Oberarm verriet: »Justiz«. Desirée registrierte, dass sie weder Schusswaffen noch Schlagstöcke am Gürtel trugen, stattdessen ein kleines, fast quadratisches Holster, und sie fragte sich, was da wohl drin sein mochte. Um halb zwei schloss einer von ihnen die Tür auf, beide kontrollierten die Einlasskarten, und das Geschiebe begann, aber immer noch weitgehend lautlos. Angeführt von Volker, der die Ellbogen ausfuhr, kamen sie mit der ersten Welle hinein, und Desirée und Ingrid sicherten sich Plätze in der Mitte der ersten Reihe. Der Autor scannte kurz den Zuschauerraum, warf einen Blick in den Gerichtssaal und entschied sich zu Desirées Verblüffung für den Platz ganz rechts in der hintersten Reihe.
Nach wenigen Minuten waren alle Plätze belegt. Kameras surrten und klackten, aber sie konnten nur das Publikum und den leeren Gerichtssaal aufnehmen, bevor sie hinauskomplimentiert wurden. Desirée sah sich um. Sie hatte noch nie einen Gerichtssaal von innen gesehen. Der Zuschauerraum war rechteckig, fünf Stuhlreihen mit je dreizehn Sitzen, es passten bloß fünfundsechzig Leute hinein. Da war der Frust draußen verständlich.
Die ganze rechte Seite war eine Fensterfront mit halb geschlossenen Lamellen, durch die man auf das Multiplex-Kino auf der anderen Straßenseite blicken konnte. Abgeteilt vom Zuschauerraum durch eine Barriere mit einer offenen Glaswand darüber, die geschlossen werden konnte, war der Gerichtssaal mit eigener Tür etwa doppelt so groß, quadratisch, in dunklem Holz mit weißen Wänden und grauer Bestuhlung und grauen Türen, an der Decke lauter quadratische Lampen in engen Reihen. Vom Zuschauerraum blickte man direkt auf die Richterbank, dahinter standen fünf lederne Chefsessel, der in der Mitte mit höherer Rückenlehne, »für die Vorsitzende«, erklärte Ingrid. Rechts etwas versetzt ein Pult, »der Protokollführer«, an der Fensterfront entlang eine lange Tischreihe mit mehreren Stühlen, »Anklage, Nebenkläger, Sachverständige«, links gegenüber »sitzt die Verteidigung etwas erhoben hinter dem Angeklagten an der niedrigen Bank«. Stühle und Tisch in der Mitte waren für Zeugen, was Desirée sich schon gedacht hatte, die Pressevertreter nahmen in einer Reihe direkt an der Barriere vor Desirée und Ingrid Platz, die wisperte: »Prominenz. Der blonde Hinterkopf gehört Gisela Friedrichsen vom SPIEGEL , der rote Lockenkopf Sabine Rückert von der ZEIT . Die Gerichtsreporter von BILD und den andern kenne ich nicht, aber die sind sicher auch da. Der kleine Glatzkopf da drüben jedenfalls ist der vom ZDF .«
Jetzt erkannte Desirée ihn auch, er kommentierte sonst meist Verfassungsgerichtsurteile oder so. Die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen einen Leitenden Oberstaatsanwalt vor seinem eigenen Gericht wegen Mordes würde heute Abend über die Bildschirme flackern und morgen in allen Zeitungen stehen.
Nun tat sich gar nichts. Publikumsgewisper wie im Theater, aber die Bühne, der Gerichtssaal, blieb leer. Alles sah völlig anders aus, als Desirée sich das vorgestellt hatte; die Stille irritierte sie am meisten. Sie hatte angenommen, der Angeklagte werde an aufgeregt schreienden Fotografen und Kameraleuten vorbei mit dem Jackett überm Kopf in einen prächtigen holzgetäfelten, viel größeren Saal geführt. Aber natürlich stammte diese Vorstellung aus amerikanischen Filmen.
Desirée drehte sich zu dem Autor um, der sich genauso erstaunt und aufmerksam umsah wie sie – offenbar war auch er noch nie in einem Gerichtssaal gewesen – und mit einem roten Schwan-Stabilo in seinen linierten A5-Block kritzelte, das vollgeschriebene Blatt abriss und rechts neben sich mit der beschriebenen Seite nach unten auf den Boden legte. Desirée grinste. Deshalb dieser Platz. Genauso hatte er das auch bei seinen Recherchen zu dem Buch über ihre Jagd nach dem Serienmörder-Trio gemacht.
»Und hier ist, ähm, er auch verurteilt worden?«, fragte sie und meinte ihren Vater.
»Von dem anderen Richter«, nickte
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