Der schlaue Pate
sie hat Ihnen die Tasse weggenommen und ausgekippt und weggestellt. Ihrer beider Fingerabdrücke sind an der Tasse. Sie haben aus der Flasche getrunken. Die Geschädigte wollte das verhindern. Vielleicht hat sie Sie geschlagen, vielleicht eine abfällige Bemerkung gemacht. Und weil Sie ein schwerer Alkoholiker sind, Herr Baginski, hat Sie das so wütend gemacht, dass Sie das Messer ergriffen und rasend auf sie eingestochen haben.«
25.
Prinz, Ollie, Dirk in verschiedenen Wagen und Erich auf seinem Motorrad waren den Kaisers und den Exmännern von Melsungen aus in die Stadt gefolgt. Jörg saß heute allein in der Fahrerkabine des Sprinters. Nachdem alle ihre Wagen in der Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz abgestellt hatten und ins Gericht gegangen waren, hatte Ollie Positionsmelder daruntergeklebt.
Dann waren sie zurück nach Melsungen gefahren und in die Häuser der Familie und das Haus des ersten Exmannes eingebrochen, wo Ollie nicht nur die Telefone verwanzte. Nur der Ägypter hatte keine eigene Wohnung mehr, er lebte jetzt mit seinen Söhnen und den Stieftöchtern in dem Haus, das einmal Ellen Kaiser gehört hatte; dort hielten sich die zweite Tochter und die Söhne auf, deshalb konnten sie nicht einbrechen. Wieder zurück in Kassel warteten sie vor dem Gericht auf das Ende des Verhandlungstages.
Der erste Hinweis darauf, dass es für die Verteidigung nicht gut gelaufen sein konnte, waren die zufriedenen Gesichter der Kaisers und der Exmänner, als sie herauskamen. Nur die ältere Tochter, Sophie, schien bedrückt. Desirée und Ingrid wirkten beinahe niedergeschmettert.
»Was ist los?«, fragte Prinz.
»Heute hat es keinen Sinn, dass ich versuche, mich an die jüngere Schwägerin heranzumachen«, sagte Ingrid. »Das war eine Katastrophe. Baginski ist bei einer Lüge ertappt worden. Und Andreas und dieser Spohr müssen in den Akten etwas übersehen haben, denn es hat sie kalt erwischt.«
»Scheiße«, sagte Prinz leise und blickte zu den Kaisers. »Was ist da los?«
Desirée folgte seinem Blick. Sophie schien sich mit ihren Onkeln und Tanten und ihrem Vater zu streiten, aber so leise, dass nichts zu verstehen war. Alle wisperten auf sie ein, sie schüttelte trotzig den Kopf. Der ägyptische Stiefvater schien schließlich für sie Partei zu ergreifen, der Vater sich anzuschließen.
Nach ein paar Minuten rannte Sophie über die viel befahrene Straße – durch die Unterführung unter der Kreuzung hundert Meter südlich war es ein Umweg, die Forderung nach einer »Beamtenampel« an dieser Stelle lehnte die Stadt seit Jahren ab, weshalb das viele machten – auf das Multiplex zu, hinter dem das Rathaus lag. Die anderen gingen langsam und debattierend die Straße hinunter zur Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz. Die eigene Tiefgarage des Gebäudekomplexes der Gerichte und der Staatsanwaltschaft war für die dort Beschäftigten reserviert.
»Ich glaube, ich probiere es doch«, meinte Desirée. »Mir hat ihr Gesicht heute gefallen.«
Aber sie musste warten, weil die aus der Südstadt kommende Autoschlange gerade Grün hatte, und als sie endlich lossprinten konnte, war Sophie Kaiser längst hinter dem Multiplex verschwunden.
Desirée rannte an der Seitenfront des Rathauses entlang bis zur Königsstraße. Vor ihr war Sophie Kaiser nirgends zu sehen, aber sie musste hier entlanggekommen sein. Sie war weder links in die Wilhelmshöher Allee gebogen, noch stand sie an der Haltestelle Fünffensterstraße. Also rechts in die Fußgängerzone, wo es wie üblich vor Menschen wimmelte. Etwas weiter unten war die Haltestelle Rathaus, wo sich Hunderte Leute drängten. Kurz nach vier, Feierabend.
Keine Sophie Kaiser. Sie war um einiges größer als Desirée, dunkler als ihre tote Mutter, aber auch blond, sie trug eine auffällige rote Jacke, und sie hatte nicht viel Vorsprung gehabt. Wenn sie die Königsstraße heruntergegangen war, musste Desirée sie entdecken. Wenn sie geradeaus weiter Richtung Ständeplatz gegangen wäre, hätte sie sie längst sehen müssen. Es war keine Straßenbahn nach oben gefahren, und unten war eine bereits am Königsplatz, die hätte sie nicht kriegen können. Also, wo steckte sie?
Desirée fluchte leise in sich hinein.
Vielleicht in einem der Geschäfte gegenüber dem Rathaus? Nicht in dem Bubble-Tea-Laden, nicht im ADAC -Reisebüro, nicht in der Bäckerei oder dem Backshop direkt daneben, nicht in den beiden Klamottenläden, die waren alle von außen einsehbar. Desirée hastete durch
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