Der schlaue Pate
Motive, auf die sein Text hinten Bezug nahm, offenbar bei bestimmten Gelegenheiten sehr sorgfältig ausgesucht.
Das konnte für Andreas alles sehr nützlich sein.
Die älteren Fotoalben waren von ihren Eltern, die Ellen Kaiser offenbar nach deren Tod an sich genommen hatte. Schwarz-weiß, der Vater heiratete die Mutter als Wehrmachtssoldat, die Firmengründung, anfangs hieß die Firma nur »Kaiser Ventile«, die beiden älteren Brüder als Kleinkinder, Einschulung und so weiter. Einzug in das Haus, das inzwischen verkauft war, ausgelassene Partys in diesem Haus, Urlaub in Italien, ein kleines Segelboot auf dem Edersee. Dann Farbe, Ellen als Baby, Umzug in neue Firmengebäude, die Spezialarmaturen waren hinzugekommen, ein größeres Segelboot auf dem Edersee. Die üblichen Familienfeiern und immer wieder Partys, Partys, Partys, im Haus, auf dem Boot, am Ufer des Sees. Dort machten in einer Sommernacht drei Frauen um die vierzig, eine davon Ellens Mutter, mit viel Gelächter, angefeuert von offenbar grölenden Männern und kichernden anderen Frauen, einen Striptease, waren nackt, aber nur von hinten zu sehen, während sie neckisch über die Schultern in die Kamera blickten. Es wurde enorm gebechert, manche Männer mit schnapsverzerrten Gesichtern, hin und wieder lagen sogar Schnapsleichen herum. Reich gewordene enthemmte Mittelständler in den wilden sechziger Jahren.
Insgesamt achtmal saß Ellen Kaiser als Kleinkind, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, auf dem Schoß eines merkwürdig grinsenden Mannes, der Desirée irgendwie bekannt vorkam. Dunkles Haar, Brille, Bauchansatz, kleine Nase, kantiges Kinn. Auf fünf der Fotos trugen beide Sommerkleidung, auf dreien der Mann eine Badehose, die kleine Ellen war nackt. Sie lächelte auf keinem Bild, sondern blickte schmollend weg von der Kamera, weg von dem Mann. Desirée fand denselben Mann über ein Dutzend Mal auf Partyfotos, mit anderen in die Kamera prostend, trinkend, tanzend, einige Male offenbar ziemlich betrunken, bei dem Striptease schien er der Hauptantreiber gewesen zu sein.
Sie ging mit einem unverfänglichen Foto in Sophies Zimmer, die hastig den Player ausschaltete – Baginski war gerade bei dem »denkwürdigsten Orgasmus meines Lebens« – und fragte, wer das sei. Sophie hatte keine Ahnung.
Die Fotos von Ellen Kaisers eigener wachsender Familie waren nicht anders als erwartet. Bei ihrer Hochzeit hatte sie kein sehr fröhliches Gesicht gemacht, bei den Taufen der Kinder schon. Achim, ihr Mann, guckte oft recht finster oder lächelte gezwungen, selbst auf Fotos von Familienfeiern war offensichtlich, dass es keine glückliche Ehe gewesen war. Saed hingegen hatte auf späteren Fotos immer ein breites Grinsen im Gesicht.
Wenn einer von diesen beiden hinter dem Mord steckte, dann eher Achim.
Ein Foto hatte Desirée beim ersten Durchgang überblättert, was sie nicht fassen konnte, als sie beim zweiten geradezu darüber stolperte.
Sommer, etwa ein Dutzend Leute saßen draußen an den Tischen vor einem Restaurant in der Melsunger Fußgängerzone: Ellen mit der Hand an einem Kinderwagen, keine weiteren Kinder, also musste die kleine Sophie darin liegen. Achim unterhielt sich ernst mit jemandem, der der Wirt zu sein schien, die Wirtin hatte offenbar gerade Pizzen gebracht und sich dazugesetzt, ganz rechts turtelte ein schwarzhaariges lockiges Mädchen mit halb abgewandtem Gesicht, sodass nur eine prominente Nase zu erkennen war, mit einem Jungen, der ebenfalls italienisch aussah.
Das Restaurant war das La Mama.
Die Crotones. Ewald Baginski hatte wegen Verdachts auf Verbindungen zur kalabrischen ’Ndrangheta gegen die Familie ermittelt.
Achim unterhielt sich mit dem Wirt.
Kein Datum, kein Ort, keine Zeit
Als Miriam Bosch, die forensische Psychologin aus Lippstadt-Eickelborn, wieder zu sich kam, befand sie sich nicht mehr in dem fast runden Raum mit etwa drei Meter hoher Decke. Zunächst wurde ihr das gar nicht klar, denn es war stockdunkel. Sie war nackt.
Er musste sie irgendwie betäubt haben. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie weggetreten gewesen war. Sie hatte entsetzliche Kopfschmerzen, Durst, Hunger.
Dann merkte sie, dass sie nicht in dem Bett lag, sondern auf einem rauen, kieselartigen Boden. Und es war viel kälter als in dem Raum.
Panisch fuhr sie hoch. Ihre Hände ertasteten eine grob aus Steinen gemauerte Wand. Es drang doch ein wenig fahles Licht herein, ein schmaler Strich ganz unten, vielleicht siebzig oder achtzig Zentimeter
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