Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Mitleid mit mir! Ich kann nicht ohne meinen Sohn leben, denn er ist ein Teil von mir, so wie deine Kinder ein Teil von dir sind.«
»Du bist ein schlechter Teil von ihnen«, gab sie boshaft zurück. »Du bist der Teil von mir, für den ich mich immer geschämt habe und den ich loswerden wollte wie einen bösartigen Tumor, der sich in meinen Körper eingenistet hat. Und ich weiß, dass du mich den Rest meines Lebens verfolgen wirst! Dein Ehemann, der Vater des Babys, hat beschlossen, es mir zu geben. Er hat diese Entscheidung getroffen! Dein Baby gehört jetzt mir, und du hast nichts mehr dazu zu sagen.«
Meine Mutter verbot mir somit jedes weitere Wort. Ein Strudel der widersprüchlichsten Gefühle riss mich nun mit sich fort: Angst, Wut und Ohnmacht befielen mich gleichermaßen.
Auf meinem Hemd zeichneten sich mittlerweile zwei feuchte Flecken ab.
»Kann ich ihn jetzt bitte stillen?«, drängte ich.
»Er braucht nicht gestillt zu werden, denn ich gebe ihm ein Fläschchen, und zwischendurch beruhige ich ihn mit meiner Brust!«, erklärte sie mit trotzigem Blick.
»Meine Brüste schmerzen, Mama! Und er braucht die Muttermilch!«
»Du mit deiner Milch! Was kommt denn schon aus deinen Brüsten heraus? Ein Kind kann auch mit Kuhmilch aufwachsen, du bist also durchaus entbehrlich. Beruhige dich wieder, und geh zum Arzt, damit er dir etwas gibt, um den Milchfluss zu stoppen. Heute Nacht wird dein Baby bei mir bleiben, um sich an meinen Geruch zu gewöhnen. Amir wird bei mir aufwachsen, und ich werde für ihn sorgen. Er wird vergessen, wer seine Mutter ist! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn ich werde ihn wie meine anderen Söhne behandeln, sogar noch besser. Was willst du denn noch?«
Meine Mutter ließ nicht nur mich im Stich, sie wollte jetzt auch noch meinen Platz bei meinem geliebten Kind einnehmen. Wie hatte ich nur so dumm sein können zu glauben, sie würde mir helfen, meinen Ehemann umzustimmen! Instinktiv wusste ich, dass das Komplott von ihr ausging. Sie wollte mir meinen Sohn wegnehmen. Sie hatte ihn meinem Ehemann abgekauft, und er hatte ihr Angebot angenommen. Anstatt mir Ratschläge für den Umgang mit dem Kind zu geben, wie es die meisten Frauen tun, wenn ihre Töchter Mutter werden, hatte meine Mutter beschlossen, mir meinen Schatz, meinen Lebensinhalt zu rauben.
Ich ging in mein Zimmer hinunter und weinte über den Verlust meines Sohnes, aber auch aus Wut und Verzweiflung über die abgrundtiefe Bosheit meiner Mutter. Mein Ehemann setzte sich neben mich. Er wiederholte, dass es die beste Lösung für alle sei, für das Baby ebenso wie für mich. Dann versuchte er mir einzureden, dass ich diese Geschichte rasch vergessen würde, wenn ich erst einmal ein zweites Kind hätte. Aber ein Kind kann doch nicht ein anderes ersetzen, das sagte mir mein Mutterherz ganz deutlich.
»Es ist doch wichtig, dass deine Mutter zufrieden mit dir ist! Wenn du einwilligst und ihr dein Baby anvertraust, wirdsie dich umso mehr lieben. Und du kannst sicher sein, dass sie das Kind lieben wird.«
Abdel wusste, wie verzweifelt ich stets versucht hatte, meiner Mutter zu gefallen und von ihr geliebt zu werden. Umso mehr peinigte mich jetzt seine Anspielung auf meinen innersten Wunsch. Damals war ich zu jung und zu verwirrt, um zu begreifen, wie er mich manipulierte. Seine doppeldeutige Botschaft ließ mir keinen tröstlichen Ausweg: Entweder verzichtete ich auf Amir und stellte meine Mutter zufrieden, oder ich behielt ihn und riskierte womöglich den endgültigen Bruch mit ihr. Ich saß in einer Falle, aus der ich nicht unbeschadet herauskommen würde.
»Damit ist die Diskussion beendet! Diese verdammte Geschichte geht mir langsam auf die Nerven. Ich merke, dass ich allmählich die Geduld verliere! Heute Abend möchte ich mich ausruhen können, ohne Jammern und Klagen zu hören«, erklärte er mit Nachdruck und umfasste grob meine Hand.
Die Berührung dieser Hand, die den eigenen Sohn so einfach weggeben konnte, stieß mich ab. Ich ging zurück ins Wohnzimmer, denn ich wollte allein sein.
Wie sollte ich weiterleben ohne das Kind, das ich gerade geboren hatte? Die schweren Monate der Schwangerschaft hatte ich hinter mich gebracht und voller Ungeduld auf seine Geburt gewartet. Nun wünschte ich mein Kind in meinen Bauch zurück, in die Wärme ganz tief in mir.
Es gelang mir nicht, mein Schluchzen zu unterdrücken. Ich hatte nicht den Mut und auch nicht die Kraft, meinen Eltern die Stirn zu bieten. Ich fühlte mich
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