Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
bei uns bleiben würdest, Samia. Dein Vater ließ mich stets für dein Verhalten büßen. Ich habe niemals akzeptieren können, dass du ein Mädchen geworden bist, und das weißt du sehr genau! Du hast mich nicht zu belehren! Ich will jetzt nichts mehr von alledem hören. Der Kleine schläft, und die Nacht wird dir sicher Rat bringen, Samia. Gute Nacht!«
»Ich habe mein ganzes Leben lang immer nur eure Ratschläge befolgt …«
Meine Mutter hörte mich nicht mehr. Ich ging ins Wohnzimmer zurück und legte mich aufs Sofa. Die überwältigende Erkenntnis meiner Ohnmacht hinderte mich am Einschlafen. Ich betrachtete meine Situation aus allen möglichen Blickwinkeln und suchte vergeblich nach einer Lösung. Nachdem meine Tränen versiegt waren, schlief ich am frühen Morgen ein.
Ein paar Stunden später weckte meine Mutter mich mit Vorwürfen:
»Schämst du dich nicht? Du lässt deinen Ehemann allein in seinem Bett schlafen! Ich könnte wirklich verstehen, wenn er dich am Ende noch umbringt! Hilf mir jetzt beim Packen der Babysachen!«
Ich fühlte mich zerschlagen und hatte keine Kraft mehr, um mich ihr zu widersetzen. Mir brach fast das Herz, als ich die Kleider zusammenpackte, die ich Monate zuvor mit meiner Freundin ausgesucht hatte. Nie würde ich meinem Sohn beim Spielen zuschauen können. Nie würde ich sehen, wie er nach seinem Beißring griff, wie sein erstes Zähnchen kam, wie er kroch, auf allen vieren krabbelte, sich aufrichtete. Und nie würde ich hören, dass er mich Mama rief … Stattdessen würde meine Mutter in den Genuss dieser Dinge kommen! Samia war nur ein nutzloses Dienstmädchen, und brachte sie einmal etwas zustande, dann hatten die anderen den Gewinn davon, und sie ging leer aus. Ich fühlte mich so wertlos wie noch nie zuvor.
Meine Mutter hatte es eilig, das Haus mit meinem Baby zu verlassen. Sie belauerte mich wie eine Löwin, die mich bei der ersten falschen Bewegung anspringen würde, um ihr Junges zu verteidigen.
Dabei hätte ich mich wie die Löwin verhalten müssen! Warum habe ich mein Baby in diesem Augenblick nicht beschützt? Warum habe ich eine solche Niederträchtigkeit geschehen lassen? Warum habe ich nicht darauf bestanden, mein Baby wenigstens noch einmal für ein paar Minuten im Arm halten zu dürfen, um mir seinen Geruch einzuprägen? Warum? Man zwang mich, in die Rolle des kleinen unterwürfigen Mädchens zurückzuschlüpfen, die ich in meiner Familie stets hatte spielen müssen. Ich fühlte mich besiegt, ohne überhaupt gekämpft zu haben.
Doch ich machte einen letzten Versuch.
»Ich will euch zum Flughafen begleiten«, begehrte ich auf.
»Nein, Samia! Es gibt nur Probleme, wenn du mitfährst. Du bleibst hier«, erwiderte mein Ehemann grob.
»Bleib zu Hause, und denk an etwas anderes. Sobald ich in Algerien bin, wird dein Vater dich anrufen. Mach dir keineSorgen wegen des Babys. Ich liebe es schon jetzt mindestens so sehr wie meine Söhne.«
»Siehst du, Samia«, fügte mein Ehemann noch hinzu, um mich zu beschwichtigen, »sie wird das Kind wie eine Mutter lieben! Außerdem wirst du regelmäßig erfahren, wie es ihm geht. Was für ein Glück, eine solche Mutter zu haben!«
Diese Worte stürzten mich in tiefe Verwirrung. Ich zweifelte an mir selbst. Ich wusste nicht mehr, ob die Welt verrückt war oder ich. Vor meiner Abreise hatte mein Vater mir gesagt, dass er seine Augen überall habe, ganz gleich, wohin ich ginge. Bestimmt war er für diese Teufelei verantwortlich.
Ich verfluchte meine Familie und wusste, dass ich nichts tun konnte, um sie an diesem Verbrechen zu hindern.
Meine Mutter erschien und warf mir einen letzten abfälligen Blick zu.
»Beeil dich, Abdel, das Flugzeug wartet nicht«, trieb sie meinen Ehemann zur Eile an.
»Wartet, ich will mein Baby noch ein einziges Mal sehen.«
»Meinetwegen, aber mach schnell.«
Amir schlief mit geballten Fäustchen. Ich drückte ihn zärtlich an mich und achtete darauf, ihn nicht aufzuwecken. Dann reichte ich ihn meiner Mutter und rannte ins Haus zurück.
Als ich dem davonfahrenden Auto nachsah, begriff ich, welchen Schmerz eine Mutter empfindet, die ihr Kind durch Krankheit oder durch eine Entführung verliert. Ich weinte bitterlich über den Verlust meines Sohnes.
7. Das Leben ohne meinen Sohn
Ich konnte mit meinem Schmerz nicht allein bleiben. Ich musste mit jemandem sprechen und dachte an die Freundin aus meiner Kindheit. Abdel verbot mir, Kontakt mit Amina aufzunehmen, aber ich rief sie an, als er nicht
Weitere Kostenlose Bücher