Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
für sein brutales Verhalten in der letzten Nacht zu entschuldigen.
»Hört zu, ihr beiden! Wir sollten jetzt lieber an unseren Plan denken. Packt eure Sachen zusammen. Beschränkt euch auf zwei Kleidergarnituren, einen Schlafanzug und eure Toilettensachen.«
»Ich würde so gerne meinen Bären Balou mitnehmen!«, bat Melissa.
Da sah ich plötzlich meine Mutter vor mir, wie sie mir Câlin entriss, und eine tiefe Traurigkeit überkam mich.
»Aber natürlich, mein Liebling! Wir gehen ganz bestimmt nicht ohne Balou fort!«
Als ich die Schritte meines Ehemannes vernahm, die sich der Küche näherten, gab ich meinen Töchtern rasch ein Zeichen und wechselte das Thema.
»In ein paar Tagen sind die Ferien zu Ende. Seid ihr nicht gespannt darauf, in eurem neuen Heimatland zur Schule zu gehen? Ihr werdet dort wie in Frankreich auf eure Zukunft vorbereitet werden. Ihr werdet lernen, Gott zu lieben und euch zu benehmen, wie es sich für anständige junge Mädchen gehört.«
»Ich will morgen stolz auf euch sein! Ich will hören, wie die Leute auf euch zeigen und sagen: Diese wohlerzogenen Mädchen sind die Töchter von Monsieur Abdel Adibe«, fügte ihr Vater hinzu.
Wie oft hatte ich diese Worte früher selbst zu hören bekommen! Es war ein Schock, sie jetzt abermals zu vernehmen, nur dass sie dieses Mal an meine Töchter gerichtet waren. Nein, ich wollte nicht, dass sich meine Geschichte wiederholte! Unsere Flucht musste gelingen! Ich war fest entschlossen, dieses schreckliche Land mit meinen Töchtern zu verlassen. Zum Teufel mit der Familienehre, der Angst vor meinem Vater und vor meinem Ehemann! Zum Teufel mit dem ganzen Land! Ich hatte vor nichts und niemandem mehr Angst!
Voller Hoffnung ging jede von uns in ihr Zimmer und versuchte, trotz aller Aufregung ein wenig zu schlafen. Mein Ehemann war so zufrieden darüber, mein Haus zu erhalten, dass er mich diese Nacht in Ruhe ließ!
Am nächsten Morgen weckte mich Norah.
»Mama! Steh auf, er ist fort.«
Ein strahlendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Als ich in die Küche kam, sah ich, dass das Frühstück bereits vorbereitet war. War für eine schöne Überraschung!
»Danke, ihr beiden! Soll damit unsere Abreise gefeiert werden?«
»Nein, Mama, unser baldiger Sieg, so Gott will!«
»Lass uns noch nicht von Sieg reden, Norah. Beten wir lieber zu Gott, dass er uns auf unserem Weg beisteht.«
Nach dem Frühstück packten wir alles, was mir mitnehmen wollten, in eine einzige Tasche und riefen ein Taxi, das uns zum Flughafen brachte.
Dort reihten wir uns in die Schlange am Zoll ein.
»Ihre Papiere bitte, Madame«, forderte der Zöllner mit teilnahmsloser Miene.
Nachdem er die Pässe geprüft hatte, musterte er mich ernst. Ich fühlte, wie mich alle Kraft verließ.
»Zeigen Sie mir bitte die vom Vater der Mädchen unterzeichnete Genehmigung, dass sie das Land verlassen dürfen.«
»So etwas habe ich nicht, da ihr Vater in Frankreich ist. Unsere Ferien sind zu Ende, und wir reisen zu ihm zurück.«
»Ohne die Genehmigung des Vaters können die Mädchen nicht ausreisen. Er müsste das Papier über unser Konsulat schicken.«
Guter Gott! Wie konnte ich das vergessen! Melissa brach in Tränen aus und warf sich in meine Arme.
»Wein nicht, Melissa«, ließ Norah sich vernehmen. »Das bringt gar nichts. Wir müssen jetzt nach einer anderen Lösung suchen.«
Melissa schluchzte nur noch mehr. Nichts konnte sie beruhigen. Norah nahm sie in den Arm, während ich fieberhaft überlegte.
Ein Zöllner wurde auf uns aufmerksam, denn unsere Verzweiflung war unübersehbar. Unauffällig trat er zu uns.
»Madame, hier ist meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an, denn ich kann Ihnen helfen. Sprechen Sie jetzt nicht mit mir. Wir dürfen nicht auffallen. Ich erwarte Ihren Anruf morgen Früh.«
Dann ging er weiter. Wir fuhren mit einem Taxi wieder nach Hause, ohne dass jemand irgendetwas Verdächtiges bemerkt hätte.
Unser Gepäck war rasch wieder ausgepackt, und bald gab es nicht mehr die geringste Spur von unserer Eskapade – bis auf eine schlichte Telefonnummer. War es richtig, mich an diesen Mann zu wenden? Schließlich setzte ich meinen Ruf aufs Spiel. Wie sollte ich mich verhalten?
Mein Ehemann kam mit düsterer Miene nach Hause. »Auf dem Heimweg habe ich beinahe eine Kugel abbekommen«, sagte er verstört.
»Wie ist das passiert?«
»Ich war mit dem Auto unterwegs, als ich plötzlich eine Militärkontrolle bemerkte. Ich wollte anhalten, aber in letzter Minute sah
Weitere Kostenlose Bücher