Der Schlittenmacher
war es das Sendersuchrad, das er millimeterweise drehte.
Da ich nicht weiter den liebeskranken Dorftrottel spielen wollte, vor allem nicht vor Tilda, bemühte ich mich, ihr und
Hans aus dem Weg zu gehen. Das bedeutete, dass ich die meiste Zeit zu Hause blieb. Es half ein wenig, dass ich immer so lange arbeitete. Meistens von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sodass ich nach dem Abendessen ohnehin hundemüde war. Und wenn ich von meinem Bett aus ins Haus lauschte, hörte ich nicht mehr Tildas Gemurmel aus den Tagen, als sie noch jeden Abend laut im Highland Book of Platitudes gelesen hatte oder In einer deutschen Pension oder irgendein anderes Buch. Und eines Abends fiel mir zu meinem Erstaunen auf, dass ich auch die Grammofonplatten meines Onkels nicht mehr hörte. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen: Tilda hatte sich in Hans verliebt. Was meine Tante gesagt hatte, dass Tilda »ihre Erfahrungen als junge Frau« machen müsse, war wie ein Echo, das mich vor allem in den Nächten verfolgte. Trotzdem hätte ich nie gedacht, es würde einmal der Tag kommen, an dem mein Onkel nicht mehr Beethoven hörte. Bestimmt hätte mir Tante Constance sagen können, woher Donalds Vorliebe für diesen Komponisten rührte, aber ich habe sie nie gefragt. Ich muss zugeben, dass mir das Streichquartett Nr. 9 in C-Dur und das Quartett Nr. 10 in Es-Dur besonders gefielen, und die großen Symphonien. Auch Tante Constance vermisste die Grammofonmusik sehr. Und dann eines Nachts – und ich meine wirklich mitten in der Nacht, um drei Uhr – hörte ich die Stimme meiner Tante, lauter als ich sie je gehört hatte und als ich sie mir je hätte vorstellen können. Es klang irgendwie gar nicht mehr nach ihr. Es war so, als hätte sie eine Fremde engagiert, um in ihrem Namen zu schreien: »Donald, du bringst uns die falschen Deutschen ins Haus! Du bringst die Falschen ins Haus!«
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte mein Onkel.
»Ich sag dir – hör dir die ganzen Kriegsnachrichten drüben
in deiner Werkstatt an, nur nicht hier im Haus. Donald, in diesen Nachrichten geht es immer bloß um Mord und Tod. Immer bloß um Hitler und versenkte Schiffe. Aber Beethoven hat mit alldem nichts zu tun.«
Doch mein Onkel entschied sich anders, und an einem kalten, windigen und verregneten Morgen Ende Oktober waren seine Schallplatten verschwunden. Nicht nur die von Beethoven – alle, seine ganze Sammlung. »Ich habe überall gesucht«, sagte meine Tante bestürzt. »Sie sind weg.« Danach gab es nur noch das Radio – auf Mittelwelle und Kurzwelle –, das mich in der Nacht wachhielt, bis mir irgendwann die Augen zufielen. Die aktuellen Nachrichten mit den neuesten Opferzahlen, sogar Geschichten von einzelnen kanadischen Soldaten. Viel Trauriges und Trostloses, selten unterbrochen von weniger traurigen Meldungen. Und Rauschen, Rauschen, Rauschen. Und Geräusche aus der Küche, wenn mein Onkel dort herumhantierte. Meine Tante rief ihn, damit er endlich ins Bett kam, und er antwortete: »Noch nicht, es kommen noch Meldungen aus Frankreich … «, oder irgendwas in dieser Art. Ich hörte den Teekessel pfeifen oder Kaffee durch den Filter sickern oder das pochende Geräusch einer Whiskyflasche, die energisch auf den Tisch gestellt wurde.
»Gott vergib mir – und behalt das für dich«, sagte meine Tante, »aber in letzter Zeit kommt es mir vor, als wäre mein geliebter Donald ein Fremder, und dabei sind wir jetzt siebenunddreißig Jahre verheiratet! Wenn ich in der Küche nach ihm sehe, ist oft das Licht aus. Nicht mal eine Kerze brennt. Und er bläst auf die glühende Radioröhre. Das macht er schon seit Jahren – und der Empfang ist dadurch noch nie auch nur ein bisschen besser geworden.«
In der letzten Septemberwoche und bis zum 3. Oktober bauten
mein Onkel und ich zwei Schlitten und einen Toboggan fertig. Die Wolken hingen tief am Himmel, es sah nach Regen aus, da war eine Unruhe im Minas-Becken, etwas Rastloses, und ich musste an einen Satz denken, den ich in den biografischen Anmerkungen gelesen hatte, die auf der Rückseite der Schallplattenhülle von Beethovens erster und zweiter Symphonie standen: »… in dieser Zeit wurde er regelmäßig von Schlaflosigkeit heimgesucht.« Ich wusste, was das bedeutete. Und da waren wir nun – Constance, Donald und ich, und die abwesende Tilda. Keine Bücher, keine Grammofonmusik. Das Radio in der Werkstatt, das Radio auf dem Küchentisch. Sogar im Schlafzimmer hörte mein Onkel Radio.
Am 5.
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