Der Schlittenmacher
viele Kratzer hatten. Das erzeugt aber gar kein so unangenehmes Geräusch, jedenfalls nicht für mein Ohr. Die Kratzer, meine ich. Das gibt einem das Gefühl, dass die Musik von weither zu uns kommt, aus einem anderen Jahrhundert. Aber mit dem Rauschen im Radio verhält es sich etwas anders. Sicher, das Radiorauschen ist irgendwie demokratisch, es macht keine Unterschiede. Es stört gute Nachrichten genauso wie schlechte, nicht wahr? Egal ob furchtbare Nachrichten aus dem Krieg oder banale Informationen darüber, was man in welchen Geschäften kaufen soll. Das ist mir alles klar.«
»Und was wollen Sie mit diesem Vortrag sagen …?«
»Was ich damit sagen will, Sir – wenn man wichtige Nachrichten über einen geliebten Menschen hören will …«
»Sir …«
»… dann ist das Rauschen schwer zu ertragen. Und an diesem Nachmittag, bevor Secretary Macdonald anrief, da habe ich einfach zu viel von dem verdammten Rauschen gehört, Sir.«
Doch es waren in der Folge seit dem Untergang der Caribou genügend Informationen laut und deutlich durchgekommen. Sogar Zeugenaussagen von Überlebenden wurden im Radio zitiert. Ich kann mich noch genau erinnern, was ein Augenzeuge, ein Mr. Leonard Salter, sagte: »… ich schwamm in der Nähe eines Rettungsbootes, und einen Moment lang war das Licht von brennenden Teilen der Fähre so hell … und ich hatte ja immer schon scharfe Augen … also, jedenfalls konnte ich auf diesem U-Boot, auf der Lachenden Kuh, Matrosen sehen, die schnell durch die Luke hinunterstiegen. Das U-Boot verschwand, und ich wurde ins Rettungsboot gezogen. Überall im Wasser hörte man Schreie, Hilferufe, Gebete …«
Der Kommandant der Lachenden Kuh – des U-Bootes, das die Caribou torpediert hatte – hieß Ulrich Gräf. Über seine feige Strategie wurde in einer anderen Sendung berichtet. Als die Caribou untergegangen war, manövrierte Gräf sein U-Boot direkt unter die Überlebenden, die es in die Rettungsboote geschafft hatten oder sich an irgendwelchen Trümmern festhielten, um nicht unterzugehen. Gräf vermutete, dass der Kapitän des Geleitschiffes Grandmère dort keine Wasserbombe abwerfen würde. Und lag damit richtig.
»Sind Sie in der Lage, weiterzusprechen, Mr. Hillyer?«, fragte der Friedensrichter.
Kurz bevor er sich mit beiden Händen an den Kopf fasste und vor- und zurückwippte, sodass er fast vom Zeugenstuhl fiel, sagte mein Onkel: »Alles, was ich so liebte, hatte ich jeden Tag … ich wachte auf, sah das Gesicht meiner Frau und hatte
vielleicht schon eine Verbesserung an einem Schlitten im Kopf, an dem ich arbeitete. Ich frühstückte, ich schaute auf das Meer hinaus. Ich ging in die Werkstatt. Zum Mittagessen kam ich wieder ins Haus. Aber nicht an diesem Tag. Der Tag, an dem Hans Mohring kam, um sich mit mir auszusprechen, war die Hölle auf Erden. Vor zwei, drei oder vier Monaten hätte ich mir einen solchen schwarzen Tag nicht einmal vorstellen können. Und jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken.«
Ich glaube, es war gegen elf Uhr vormittags, als Tilda in die Bibliothek zurückkehrte und sich ganz hinten in eine Ecke setzte. Der Friedensrichter blickte von seinen Unterlagen auf, sah meinen Onkel an und nahm seine Lesebrille ab. »Mr. Hillyer«, sagte er, »ich habe gehört, dass Sie eine Art Experte auf dem Gebiet der Seeschlachten sind und ein ganz spezielles Interesse daran haben, was mit den Schiffen und Booten vor den Küsten von Neuschottland und Neufundland passiert.«
»Natürlich tut es noch mehr weh, wenn man das alles weiß.«
»Sie würden also sagen, dass dieses Thema Sie sehr beschäftigt hat. Ich zitiere einen Nachbarn von Ihnen …«
»Welcher Nachbar ist das?«, wollte mein Onkel wissen.
»… der anonym bleibt«, fuhr der Friedensrichter in mahnendem Ton fort. »Ich zitiere …« Er setzte seine Lesebrille wieder auf und las aus einem Notizbuch: »Donald Hillyer wurde zur wandelnden Geschichtsstunde, und das manchmal ziemlich penetrant. Diese Lektion kam fast täglich von ihm. Er kochte innerlich wegen der U-Boote, die unsere Schiffe versenken. Es hat gekocht in ihm wie in einem …«
»Die Lunge meiner Frau Constance hat sich mit Meerwasser gefüllt.«
Friedensrichter Junkins schloss die Augen, seufzte tief und
ließ noch ein paar kürzere Seufzer folgen. Dann las er weiter: »… gekocht wie in einem …«
»Da war eine tiefe Niedergeschlagenheit in mir, und ein tiefer Hass«, warf mein Onkel ein. »Ist das so schwer zu verstehen, Sir?«
»…
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