Der Schlittenmacher
in ihm gekocht wie in einem Teekessel. Mr. Hillyer, stimmt es, dass die Wände in Ihrer Werkstatt voll sind mit Zeitungsausschnitten über die jüngsten Tragödien auf See?«
»Das sind Morde, die Deutsche begangen haben – zahllose Morde, egal wie Sie es nennen.« Mein Onkel nahm wieder einen Schluck Wasser.
Wie ich dort in der Bibliothek saß, stellte ich mir die Wände der Werkstatt vor, die fast lückenlos mit Zeitungsberichten und Fotos bedeckt waren. Man konnte über all die Vorfälle lesen – von links nach rechts wie in einem Buch. Chronologisch geordnet. Sämtliche U-Boot-Angriffe vor der kanadischen Atlantikküste, welche Fähren versenkt worden waren, die Zahl der Opfer, die Zahl der Toten, der Vermissten und mutmaßlichen Toten, Bilder von Leuten, die in den Häfen warteten, Totenwachen.
An der Wand zur Linken, wenn man hineinkam, fand man zum Beispiel Schlagzeilen über die Ereignisse vom 11. Mai 1942, als das U-Boot U 553 den britischen Frachter Nicoya und den holländischen Frachter Leto versenkte. Beide Schiffe waren nach England unterwegs gewesen. Dieser Angriff regte meinen Onkel besonders auf.
Nun, Marlais, ich werde jetzt nicht alle siebzehn Handelsschiffe aufzählen, die seit Mai 1942 von U-Booten versenkt wurden, plus das amerikanische Handelsschiff und die beiden kanadischen Kriegsschiffe, die im Sankt-Lorenz-Golf versenkt wurden – und mittendrin der Angriff auf die Caribou . Aber
bevor die Caribou unterging, kam jedes Mal, wenn irgendein Schiff angegriffen wurde, ein Zeitungsbericht an die Werkstattwand. Und da ich Tag für Tag oft sehr lange in der Werkstatt stand, prägte sich mir das alles ein. Fast gegen meinen Willen studierte ich diese Ereignisse, mit denen ich ständig konfrontiert war. Man könnte sagen, die Wände der Werkstatt boten mir einen täglichen quälenden Lesestoff. »Was man auf diesen Wänden sieht«, meinte meine Tante einmal, »das ist so traurig, dass man es sich trauriger gar nicht vorstellen kann – bis es dann noch schlimmer kommt. Wenn ein Angehöriger ›auf See vermisst‹ wird, macht es das alles irgendwie noch schwerer. Sicher, man stellt einen Grabstein auf den Friedhof, zum ehrenden Andenken – aber weil der Tote nicht hier begraben liegt, spürt man so eine furchtbare Leere. Man liest in der Zeitung darüber, man hört die Berichte im Radio. Man spricht mit den Nachbarn darüber. Es gibt sogar Predigten in der Kirche. Seit wir diesen Krieg haben, spüren wir alle hier an der kanadischen Atlantikküste eine solche Leere.«
Und dann kam das Ereignis, das meinen Onkel wirklich aus dem Gleichgewicht brachte. Am Sonntag, dem 11. Oktober – meine Tante hatte bereits ihre Reise angetreten –, versenkte das U-Boot U 106 den britischen Dampfer Waterton , der von Corner Brook, Neufundland, nach Sydney, Neuschottland, unterwegs war und eine Ladung Papier transportierte. Die Waterton ging binnen sieben Minuten unter, doch – so hieß es in dem Zeitungsbericht – »die Crew wurde gerettet, es musste nicht einmal jemand aus dem Wasser geborgen werden.«
»Am helllichten Tag in der Cabot-Straße«, sagte mein Onkel. »Praktisch vor unserer Haustür! Und Constance fährt auch durch diese Gewässer! Wenn sie wenigstens ein Telegramm schicken würde.«
»Ihr passiert schon nichts, Onkel Donald«, meinte ich ohne große Überzeugung.
»Weißt du, was ich geträumt habe? Lieber Gott. Ich habe von den Papierstapeln an Bord der Waterton geträumt. In meinem Traum sahich das Papier als zehntausend Bibeln, die nie gedruckt werden, zehntausend persönliche Briefe, die nie abgeschickt werden. Erzähl das bloß nicht irgendwem in Middle Economy, dass ich diesen Traum hatte, okay? Sei so gut und sag’s keinem.«
Aber zurück zu der Verhandlung. Es war wieder still in der Bibliothek. Mein Onkel trank einen Schluck Wasser.
»Ja«, sagte Donald schließlich und sah Friedensrichter Junkins an. »Ich habe innerlich gekocht. Ja, Sir, ich habe gekocht – so wie es jedem guten Kanadier gehen sollte.«
»Aber es hat nicht jeder gute Kanadier diesen deutschen Studenten ermordet«, warf Junkins ein. »Das muss ich doch festhalten. Ich möchte Sie an den Grund erinnern, warum wir hier sind. Heute. In dieser Bibliothek. Der Grund ist das, was Sie getan haben, Mr. Hillyer. Und die Frage, welche Konsequenzen die Provinz Nova Scotia aus Ihrer Tat ziehen wird. Und ich muss die Fakten zusammentragen und die richtigen Schlüsse ziehen, damit das Gericht seiner schweren
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