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Der Schlittenmacher

Der Schlittenmacher

Titel: Der Schlittenmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Norman
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lief ein Streichquartett von Beethoven. Plötzlich ertönte ein schreckliches Kreischen, als die Nadel auf das Einschussloch traf. Die Nadel sprang weiter und wiederholte eine Passage immer wieder und wieder. Tilda hatte die beiden Hemden zusammengefaltet, in die Hans die Grammofonplatten gewickelt hatte, und sie neben der Schlittenkufe auf den Tisch gelegt. Mein Onkel und ich standen in der Tür und starrten die blutigen Gegenstände an, die genau da lagen, wo die Familie so oft zusammen gegessen hatte.
    »Pop, du hast noch nie – nicht ein Mal – einen Boden in diesem Haus aufgewischt«, sagte Tilda mit angespannter Stimme, so als würde ihr das Sprechen allein schon furchtbare Schmerzen bereiten. »Mutter war die Einzige, die je einen Boden in diesem Haus aufgewischt hat. Und doch ist er frisch gewischt, oder?«
    Sie hatte die Hände unter dem Tisch gehabt, doch jetzt hob sie sie und richtete den Revolver auf ihren Vater. Dann auf mich. Dann setzte sie den Lauf an ihre Schläfe. »Wo ist mein Mann?«

VON LINKS NACH RECHTS WIE EIN BUCH
    »Okay. Okay«, sagte mein Onkel. Er ging langsam auf Tilda zu, dann versuchte er ihre Finger zu öffnen und den Revolver herauszunehmen. Sie wehrte sich nicht heftig, doch sie ließ die Waffe auch nicht los. Er packte sie am Handgelenk und zog ihre Hand zur Kerze, bis die Flamme ihre Haut berührte. »Oh!«, stieß sie kurz hervor und ließ los. Mein Onkel legte den Revolver neben das Grammofon und nahm den Tonarm von der Schallplatte.
    Tilda starrte mich an. »Wyatt«, sagte sie fast im Flüsterton, »wo ist Hans?« Mein Onkel schob mich energisch zur Tür hinaus, während Tilda nun schrie: »Wo ist mein Mann? Wo ist mein Mann?« Donald und ich stiegen wieder in seinen Wagen ein. Als wir ein kurzes Stück gefahren waren, drehte ich mich um und sah Tilda vor dem Haus. Sie war auf die Knie gesunken.
    Eine zusammengefaltete Zeitung fiel aus dem offenen Handschuhfach in meinen Schoß. Die Titelseite zeigte ein Foto, auf dem Dutzende Koffer in Sydney ans Ufer gespült wurden. Man sah, dass es regnete. Zwei Männer zogen die Koffer mit langen Haken an Land. IN SYDNEY, NS, WIRD GEPÄCK DER CARIBOU-OPFER AN LAND GESPÜLT.
    »Heute habe ich meine Frau und meine Tochter verloren«, sagte mein Onkel.

    Ich musste hinübergreifen und den Scheibenwischer einschalten.
    Wir fuhren geradewegs zur Polizeiwache in Truro. Dort berichtete er alles dem diensthabenden Beamten. »Also, so etwas habe ich hier noch nie erlebt«, meinte der Polizist. »Zwei Männer kommen daher wie aus dem Nichts. Mord und Beihilfe zum Mord, würde ich sagen. Aber am besten überlassen wir die Sache dem Friedensrichter. Gibt es auch ein Fahrzeug?«
    »Mein Wagen steht draußen«, antwortete mein Onkel.
    »Schlüssel?«
    »Auf dem Sitz«, sagte mein Onkel.
    »Ich bringe Sie beide in eine Zelle. Möchten Sie irgendwen anrufen?«
    »Nein, Sir«, sagte ich.
    Und so, Marlais, wurde am 23. Oktober 1942 in der Bibliothek von Middle Economy eine Verhandlung vor dem Friedensrichter abgehalten. Es hatte schon eine gewisse bittere Ironie, dass sich Friedensrichter Dean Junkins, der am 18. Oktober aus Halifax hergeschickt worden war, ausgerechnet in den Räumen über der Bäckerei einquartierte. Cornelia Tell hatte aufgeräumt und alles frisch hergerichtet. Tilda hatte ihre Sachen und die von Hans gepackt und war wieder ins Haus eingezogen. Ein gewisser Bernard Remmick, Beamter der RCMP, der Royal Canadian Mounted Police, hatte Donald und mich um neun Uhr vormittags zur Bibliothek gefahren. In der Zeitung sprachen sie von einer »grünen Minna«, aber es war kein Gefängniswagen, sondern ein ganz normales Auto. Die Mail schrieb außerdem, dass es sich um ein »Ermittlungsverfahren wegen des Mordes an dem deutschen Studenten Hans Mohring« handle, doch wie sich herausstellte, wurden die Ermittlungen mit dieser Verhandlung am 23. Oktober auch schon wieder abgeschlossen.
Da mein Onkel ein volles Geständnis ablegte, war die Sache damit erledigt. Ich glaube, dass Friedensrichter Junkins noch rechtzeitig zum Abendessen zu Hause war.
    Am Morgen des Dreiundzwanzigsten goss es wie aus Kübeln. Mindestens hundertfünfzig Leute drängten sich in der Bibliothek. Sie waren aus allen Economys gekommen, aus Great Village, Bass River, Five Islands und Glenholme. Cornelia Tell hatte meinem Onkel und mir unsere Anzüge nach Truro gebracht, und wir zogen sie zur Verhandlung an.
    Es begann pünktlich um neun Uhr. Obwohl die Situation so ernst war,

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