Der Schlittenmacher
Encyclopaedia Britanica aus dem Wasser holten – die einzelnen Bände trieben unter der Angus L. Macdonald Bridge –, sagte Evie: »Weißt du was, Wyatt? Wir haben kein solches Lexikon daheim. Also, wenn du nichts dagegen hast, schreib ich das nicht auf. Ich würde die Bände gern trocknen, vielleicht kann man’s ja noch lesen. Meine Kinder könnten sie gut für die Schule gebrauchen. «
Wir waren auch ständig mit Tod und Sterben konfrontiert. Da waren tote Möwen und einmal eine Meeresente, die an einer Plastikhalskette erstickt war. Eines Tages trieb ein Dackel in einer Kiste mit Luftlöchern auf dem Wasser. Als wir näher kamen, hörten wir den Hund bellen und jaulen, und wir wussten, dass er okay war. Leider hatten wir auch einen Selbstmord, einen Mann, der mit dem Gesicht nach unten in der Nähe der Hafenmündung trieb. Die Angelschnur hatte ihm seine eigene Angelrute ans Bein gebunden wie eine Schiene. Es war kein schöner Anblick. Auch an diesem Tag war ich mit Evie unterwegs. Wir hielten den armen Kerl mit unseren Haken am Bootsrumpf, meldeten den Fund mit dem Walkie-Talkie
und warteten, bis die Hafenpolizei die Sache übernahm. Wir erfuhren, dass es Selbstmord war, weil am nächsten Morgen in einem Artikel in der Mail stand, dass der Mann – er hieß Russell Leminster – einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. »Wer weiß, was in so einem Menschen vorgeht?«, sagte Evie. »Vielleicht meinte er sogar in dieser Situation, dass eins nach dem anderen kommt. Also ging er zuerst angeln. Und dann folgte das Nächste.«
Wir hatten jeder einen dunkelblauen Overall, dazu eine dunkelblaue Mütze mit der aufgestickten Aufschrift Harbor Associates . Dazu erhielten wir Galoschen, einen Regenmantel, einen dicken Pullover, eine gefütterte Weste, fünf Paar Wollsocken und zwei Paar wasserdichte Handschuhe, und wenn man irgendein Kleidungsstück verlor, bekam man es zwar neu, aber die Kosten wurden einem auf dem nächsten Lohnscheck abgezogen. Ich muss zugeben, dass ich manchmal Socken, Galoschen oder den Pullover auch außerhalb der Arbeit trug.
Ich weiß gar nicht, warum ich »trug« schreibe – vielmehr trage ich sie immer noch, denn ich habe gerade mein achtzehntes Jahr als Müllsammler im Hafen von Halifax begonnen. Zusammen mit Hermione und Tom bin ich jetzt sogar befördert worden und habe eine Lohnerhöhung bekommen. Ich begann mit 18 Dollar in der Woche, plus Weihnachtszulage. Meinen Job empfand ich einerseits als Aufstieg, nachdem ich vorher im Rockhead Prison gewesen war, aber andererseits auch als Abstieg, wenn ich daran dachte, dass ich vorher Schlitten gebaut hatte.
Ich verdiene also meinen Lebensunterhalt damit, Müll aus dem Wasser zu fischen – aber was mir im Leben wirklich Freude bereitet, sind Kinofilme. Ich hoffe, deine Mutter hat dir gesagt, dass ich seit fünfzehn Jahren jeden Monat zwanzig Dollar
auf ein Bankkonto unter deinem Namen einzahle. Aber abgesehen davon sind Filme so ziemlich das Einzige, wofür ich etwas mehr Geld ausgebe. Abends esse ich fast immer zu Hause, und ich bekomme mein Frühstück und Mittagessen von Harbor Associates, außer am Samstag und Sonntag, aber ich arbeite ohnehin nur selten am Wochenende.
Seit dem ersten Tag in Halifax fragte ich mich, ob Cornelia Tell sich wirklich einmal bei mir melden würde, damit wir zusammen ins Kino gingen. Wir sahen uns vier Jahre nicht, blieben aber in Kontakt. Wir schrieben uns und telefonierten gelegentlich. Meine Briefe schrieb ich alle auf Hotelbriefpapier. Sie kam auch einige Male nach Halifax, rief mich jedoch nicht an. Es war ihre Sache und ihre Entscheidung. Allerdings schrieb sie mir immer, welchen Film sie gesehen hatte, und dann sah ich ihn mir auch an. Danach schrieb ich ihr zurück und fragte sie, was sie von diesem oder jenem Film hielt, von Flucht von der Teufelsinsel , von Der letzte Sündenfall oder Ball in der Botschaft mit Walter Pidgeon in der Hauptrolle und Xavier Cugat und seinem Orchester. Oder The Strange Woman mit meiner absoluten Lieblingsschauspielerin Hedy Lamarr, für mich die zweitschönste Frau auf der Welt nach Tilda. Alle diese Filme liefen im Casino Theatre. Ich fragte Cornelia nach ihrer Meinung über Eine Lady für den Gangster und The Show-Off . Und ich erinnere mich an ein Plakat draußen am Capital Theatre für Der unbekannte Geliebte mit Robert Taylor und Katharine Hepburn (die mir ein wenig auf die Nerven ging), mit dem Vermerk: FÜR KINDER UNGEEIGNET. Ich sah The Shocking Miss Pilgrim mit
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