Der Schlitzer
woanders, denke ich.«
»Das kann auch sein.« Ich hob die Schultern. »Schon die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, neben mir zu stehen. Ich weiß nicht, was es ist. Ein Unwohlsein vielleicht? Kann sein, daß ich krank werde. Ich fühle mich unwohl…«
»Es liegt an der Atmosphäre.«
»Nein, Bill, das glaube ich nicht. Wie oft bin ich auf Friedhöfen gewesen und…« Wir hörten den Schrei.
Und beide wußten wir, wo er aufgeklungen war. In der Leichenhalle!
***
Man hatte Rose Pandrish den letzten Wunsch erfüllt und sie in die Leichenhalle gelassen, damit sie von ihrem dort aufgebahrten Mann Abschied nehmen konnte. Sie wollte noch einmal in sein Gesicht schauen, bevor es verweste, verfiel und eine Beute für die Würmer und Maden wurde, die in der Erde ihr Reich aufgebaut hatten. Sie stand allein in der Halle.
Allein mit einem Toten — allein mit einem Mann, den sie seit über vierzig Jahren kannte und mit dem sie mehr als dreißig Jahre verheiratet gewesen war.
Sie konnte es noch immer nicht fassen, daß der schnelle Herztod ihn dahingerafft hatte, doch das Bild, das sich ihren Augen bot, war die brutale Realität.
Er lag in dem offenen Sarg. Keine Kerzen umgaben ihn. Zum Glück war das Licht der Lampen weich genug, und es fiel wie ein Schleier über das Gesicht des Toten. Man hatte ihm die Augen zugedrückt, so war wenigstens der starre Blick verschwunden, an den Rose Pandrish sich noch erinnern konnte. Sie hatte ihren Mann gefunden, als sie vom Einkaufen zurückgekehrt war.
Wie eine lebensgroße Puppe hatte er leblos in seinem Lieblingssessel gehockt. Die Zeitung war ihm aus den Händen gerutscht und lag neben dem Sessel.
Rose hatte nicht einmal geschrien, sie hatte immer nur in das wachsbleiche Gesicht mit dem schmerzverzerrten Zug und den starren Augen schauen können, und komischerweise hatte sie dabei schon an die Vergangenheit gedacht. Zumindest hatten sich die Bilder der Vergangenheit in ihr hochgedrängt, waren wie ein Film abgelaufen, blitzschnell, aber sehr detailliert. Eine Erinnerung an glückliche Stunden. Sie und Earl hatten eine gute Ehe geführt, eine normale, mit allen Vor-und Nachteilen, aber insgesamt hatten beide zufrieden sein können. Auch die beiden Kinder waren okay, leider hatten sie es vorgezogen, in die Staaten auszuwandern, um sich dort ein Geschäft aufzubauen. Zur Beerdigung würden sie kommen. Bis dahin würde Rose noch allein sein. Wie in dieser kalten Leichenhalle.
Sie vergaß die Bilder der Vergangenheit und konzentrierte sich wieder auf die Realität. Das Gesicht des Toten sah einigermaßen normal aus. Zwar zeigte es noch immer die ungewöhnliche Starre, aber der Schrecken war aus den Zügen verschwunden. Earl sah jetzt aus, als würde er schlafen, und er hatte seine Hände auf der Brust zusammengelegt, als wollte er noch ein letztes Gebet sprechen. Die Lippen der dreiundsechzigjährigen Frau zuckten. Auch die dünne Haut an den Wangen, und sie wischte mit den gekrümmten Fingern die Tränen aus ihren Augen. Dabei hatte sie nicht weinen wollen, doch was besagte das schon?
Jetzt war sie allein.
Ganz allein.
In ihrem Alter zog man nicht mehr um. Schon gar nicht in einen anderen Kontinent, wie es ihr die Söhne vorgeschlagen hatten. Rose hätte sich dort ein schönes Leben machen können, nur wollte sie das nicht. Sie war in London geboren, sie würde hier auch sterben und preßte ihre Lippen hart zusammen, als ihr dieser Begriff durch den Kopf schoß. Sterben?
Hatte es überhaupt noch Sinn für sie, am Leben zu bleiben, jetzt, wo Earl nicht mehr da war? Sie hatten vieles gemeinsam unternommen, da war keiner einen anderen Weg gegangen, doch nun war sie in ein tiefes, pechschwarzes Loch gesackt, aus dem sie nicht mehr hervorkommen konnte. Nicht aus eigener Hilfe.
Durch den Tränenschleier verschwamm das Gesicht ihres toten Mannes. Es schien sich aufzulösen, und dies wiederum kam ihr irgendwie bezeichnend vor.
Auflösen, wegschwimmen, eintauchen in andere Welten und nie mehr zurückkehren.
Sie schluckte, holte das Taschentuch hervor und trocknete sich die Tränen. Dann strich sie mit der Hand über die kalte Haut des Toten, und sie schrak zusammen, als die Fingerkuppen die Wange berührten, als hätte sie weiches Eis unter ihnen gespürt.
Im Magen lag ein dicker Klumpen. Hinter der Stirn brannte es. Es tuckerte. Sie dachte an bestimmte Dinge aus ihrem gemeinsamen Leben, und ohne daß sie es richtig merkte, fing sie an, zu der Leiche zu sprechen. Sie
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