Der Schluessel von Jirunga
folgte. Der So n nenuntergang färbte den Himmel blutrot und warf die Berglandschaft in ein gespenstisches Gewand. Schleierwo l ken legten einen orangenen Dunst in das Tal und ließen die Berge wie gewalt i ge, wilde Obstbäume erscheinen. Vor ihnen lagen die hohen Gipfel des Steinwaldes, auf deren höchster Krone ihr Ziel lag. Die Stadt Eden ! Sie zu erreichen, erforderte höchsten Ei n satz. Nachdem sie den giftigen Wald, das Ödland und zuletzt den steinernen Wald durchquert hatten und immer noch lebten, mus s ten sie nun die hohen Felsen durchschreiten. Das Hoheitsgebiet der Achtbeiner. Gerad blickte sich um.
„Also gut. Die hohen Felsen führen uns zu den Höhlen der we i ßen Affen. Wenn wir uns beeilen, können wir es schaffen. Wir sollten es schaffen, denn, wenn uns die Dunkelheit in den hohen Felsen übe r rascht, können wir einpacken.“
Lil blickte ihn an. „Noch mehr Gefahren?“ , fragte er.
„Ja . Schlimmere Gefahren“, sagte Gerad.
„Schlimmer als die Käfer?“ , fragte Lil.
„Viel schlimmer!“
Lil blickte sich kurz um. Eigentlich waren die Käfer schlimm genug. Noch schlimmer bedeutete in dieser Welt eine tödliche Katastrophe. Aber er hatte ebenso wenig eine Wahl, wie Gerad. Sie saßen im selben Boot. Die kurze Erholungspause hatte Lil ne u en Auftrieb gegeben und er glaubte, wieder frisch zu sein, was also spräche dagegen, jetzt noch einmal kräftig Gas zu geben.
„Müssen wir wieder rennen?“ , fragte Lil.
„Ich denke nicht!“
„Dann los!“
Der Marsch in die hohen Felsen dauerte nicht lange, als das Licht fast vollständig verschwand. Es verschwand innerhalb von wen i gen Sekunden, so schnell, dass Lil glaubte, jemand hätte es ei n fach ausgeschaltet. Das Restlicht wurde von den Scha t ten der hohen Felsen verschlungen und sie mussten kurz verweilen, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Dann ma r schierten sie im trüben Dunst der Schatten weiter voran, während sich Lil ausma l te, welche Gefahren als nächstes auf sie lauern könnten. Sie b e fanden sich in einem Gebiet aus Steinboden und bis zu zwanzig Meter hochragenden Fe l sen, die dicht an dicht standen und nur schmale Pfade boten, durch die sie gehen konnten. Wie ein au s getrockneter Canyon der nach wenigen M e tern endete und in den nächsten bog, mussten sie ihre Richtung ständig ändern. Ein L a byrinth aus W e gen, das sich durch enge Felsen zog und immer Bergaufwärts führte. Und wieder war ein stetes, entferntes Kl i cken zu hören, dass Lil an die Käfer der Ebene e r innerte. Nur war es diesmal viel lauter.
***
„Werden wir verfolgt?“ , fragte Lil.
„Was meinst du?“ , erwiderte Gerad.
„Das Klicken. Ich höre es bereits seit mehreren Minuten!“
„Die Achtbeiner. Sie werden uns nicht angreifen, denke ich“, erklärte Gerad.
„Achtbeiner? Muss ich mir Sorgen machen?“
„Nein. Im Augenblick befinden wir uns zwar in ihrem Gebiet und sie sind neugi e rig, abe r ich meine, sie lassen uns in R uhe, weil sie ebenso scheu wie neugierig sind. Wir werden die Höhlen erre i chen, bevor sie uns angreifen, denke ich“, erlä u terte Gerad ruhig.
„Du erklärst alle meine Fragen recht schlüssig. Ich mache mir nur Sorgen, wenn du dein „DENKE ICH“ hinten anfügst“, erklärte Lil verunsichert.
„Mach dir keine Sorgen, wir sind bald bei den Höhlen angelangt, dann sind wir sie los. Es wird zu keinem Kampf kommen , denke ich. “
Lil grinste künstlich und blickte sich um. Das Klickern und Kl a ckern vieler hartf ü ßiger Beine, die sie verfolgten, ließ ihm keine Ruhe. Dennoch blickte er nach vorne und bemühte sich, Gerads Tempo standzuhalten.
Sie waren bereits in hohe Bereiche vorgedrungen und als Lil z u rückblickte, übe r sichtete er das weite Tal der Steine aus hoher Ebene, erkannte, dass das Sonne n licht seine letzten rötlichen Strahlen über die tief unter ihnen liegende Ebene warf und blieb ergriffen stehen. Das blutrote Tal ergoss sich scheinbar in verl o rene Endlosigkeit. In weiter Ferne erstarben die letzten felsigen Erhebungen und das fl a che, trockene Land warf gespenstische Schatten, die weit in den Horizont reic h ten.
Wieder vernahm Lil das nahe Klicken hunderter Nägel, die auf Ste i nen liefen, doch es störte ihn nicht. Dieser unbegreifliche Frieden, der von dieser Welt au s ging, diese Reinheit, die trotz aller Gefahren deutlich zu spüren war , berührte Lils Herz und ließ es auf angenehm s te Weise höher schlagen.
„Sieh dir das an“, sagte Lil.
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