Der Schluss-Mach-Pakt
Schnappschüsse, wie ich finde.«
Niemand sonst versuchte mich aufzuhalten, als ich mich aus dem Zimmer schlich und auf den Flur hinaus verschwand. Sie waren jetzt alle derart mit Ian beschäftigt, dass sie mich und mein schlechtes Benehmen für den Augenblick vergessen hatten.
Ich ging also in mein Zimmer und war mehr als nur ein bisschen angefressen. Am liebsten hätte ich die Tür hinter mir zugeknallt oder mit der Faust gegen die Wand geschlagen oder so etwas. Konzentrier dich, ermahnte ich mich selbst. Dann schloss ich die Augen und stieß langsam die Luft aus.
Meine Schritte hinterließen schon fast eine Spur auf dem Boden, während ich auf und ab wanderte und die Namen der Handknochen ein ums andere Mal wiederholte. »Phalanx distalis«, murmelte ich.
Warum ließ Dad zu, dass seine Hormone unser Leben ruinierten?
»Phalanx proximalis«, machte ich weiter mit dem nächsten Knochen.
Mom hatte ein riesiges, klaffendes Loch hinterlassen, als sie einfach so verschwunden war. Es hatte lange Zeit gedauert, bis der Schaden allmählich wieder behoben worden war. Da konnten wir es jetzt echt nicht brauchen, dass jemand anderer daherkam und dieses Loch abermals aufriss. Was wir brauchten, waren Antworten auf die Fragen, die bei uns zurückgeblieben waren.
Ich erreichte das Ende meines Zimmers, wirbelte auf dem Absatz herum und marschierte in die andere Richtung wieder zurück. »Palanx media.«
Ian und ich brauchten keine Ersatzmutter. Hatte ich denn meine Sache nicht gut gemacht, indem ich diese Rolle übernommen hatte? Was war denn falsch daran, wie die Dinge im Augenblick waren? Ich hatte mein Möglichstes getan, die Tatsache, dass Mom nicht mehr bei uns war, wettzumachen. Nachdem sie gegangen war, hatte Ian fast ein Jahr lang gebraucht, ehe Dad das Haus verlassen konnte, ohne dass er in Tränen ausbrach. Er war immer der Überzeugung gewesen, Dad würde ebenfalls für immer verschwinden. Wir hatten schon seit Jahren keinen gemeinsamen Urlaub als Familie mehr gemacht, da wir dafür einfach nicht das nötige Geld hatten. Ich hatte mich ganz für die Schule aufgeofert, um sicherzugehen, dass ich ausreichend gute Noten bekam, damit ich reihenweise Stipendien absahnen und es so aufs College schaffen würde, ohne dass es meinen Dad finanziell belastete. Dann hatte ich geschuftet, um ausreichend Geld zu verdienen, damit ich mir die Dinge kaufen konnte, die ich benötigte und gern haben wollte, damit ich Dad damit nicht zur Last fiel. Ich putzte und kochte, wenn ich gerade nicht arbeitete, ich bezahlte Rechnungen und sorgte dafür, dass der Haushalt lief. Außerdem achtete ich darauf, dass Ian sich ordentlich anzog und auch mal was anderes aß außer Pizza und Cheeseburger.
»Ossa metacarpi.«
Ich war damals diejenige gewesen, die die alten Tagebücher, Briefe und selbst die Einkaufszettel meiner Mutter durchgesehen hatte – alles, was in Schubladen gestopft gewesen war – in der Hoffnung, diejenigen Orte bestimmen zu können, an denen sie möglicherweise war, um dann die fünf wichtigsten auf einer Karte zu markieren. Ich war diejenige gewesen, die darauf gekommen war, dass sie sich am allerwahrscheinlichsten in Costa Rica aufhielt, weil sie darüber nämlich am häufigsten gesprochen hatte. Sie hatte immer davon geträumt, dort abgeschieden auf einem üppig überwucherten Berg zu leben.
Doch das hatte nicht gereicht. Nichts von dem, was ich je unternommen hatte, war gut genug gewesen. Nicht gut genug, um meinem Dad den Wunsch nach einer neuen Mom für unsere Familie auszutreiben, und nicht gut genug, um meine echte Mom dazu zu bringen, bei uns zu bleiben.
»Ossa carpi«, flüsterte ich und stieß einen langen Atemzug aus. Meine Mom war diejenige gewesen, die mein Interesse an der Medizin geweckt hatte. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich mit ihr in einem alten Medizinbuch geblättert hatte, als ich noch klein war, und die Namen verschiedener Knochen und Organe lernte. Das war etwas, das uns verband, und manchmal überraschte sie mich mit einem neuen Medizinbuch, das wir uns zusammen ansehen konnten. Mom hatte eigentlich auch mal Ärztin werden wollen, als sie noch ein Kind war. »Dann hab ich geheiratet«, hatte sie immer gesagt, wenn ich sie fragte, warum sie dann nicht auch Medizin studiert hatte. »Und ich bekam dich und Ian.«
Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl gehabt, etwas falsch gemacht zu haben, einfach nur, indem ich zur Welt gekommen war.
Nachdem sie verschwunden war, studierte ich die
Weitere Kostenlose Bücher