Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ihr lebte. Ihr könnt es euch lebhaft vorstellen, finsterste Nacht, Sturm und Regen, die Freundin hört es an die Schafsblase klopfen, mit der das Fenster bespannt war, und ihren Namen flüstern, oder wie auch immer die Mutter sie aus dem Bett geholt haben mag, und es hätten sich längst nicht alle getraut, in einer solchen Nacht allein die Tür zu öffnen. Sie aber warf sich schlaftrunken etwas über und machte auf, und draußen stand die unglückliche Mutter. Was trägst du denn da im Arm, fragte die Freundin. Mein Kind, sagte die Mutter. Bei dem Wetter, fragte die andere. Mein Kleines merkt es nicht mehr, sagte die Mutter und schlug die Tücher über dem Gesicht des Kindes zurück, um das geronnene Blut zu zeigen. Dazu sagte sie: Er war’s. Sie hatte auch bei diesem Unwetter nichts auf dem Kopf und nichts an den Füßen, die schon blutig geschunden waren. Komm rein, sagte die Freundin, Gott weiß, dass dieser Teufel in Mannsgestalt dafür gestraft werden wird, und wenn ich es selbst tun müsste! – Gott kümmert sich nicht um arme Frauen, sagte die Mutter, du weißt so gut wie ich, dass wir ihm nichts anhaben können. Wenn wir es auch nur versuchten, würden sie mich als Mörderin an meinem eigenen Kind nach Brimarholm schicken. Aber ich werde zehn Kerle mit mir nehmen, das soll meine Rache sein. – Was hast du vor, fragte die Freundin. Jetzt komm erst einmal herein, hier draußen erfrierst du ja, so, wie du angezogen bist. Da aber soll die Mutter gelacht und gerufen haben: Ja, glaubst du etwa wirklich, ich wollte nach alldem noch weiterleben und mein Kind im Tod allein lassen? Sag ihnen, sie sollen in der Schlucht nachsehen! Damit drehte sie sich um, lief in die Nacht und verschwand. So schnell, dass die Freundin sie rasch aus den Augen verlor. Erst viele Tage später ist sie gefunden worden, oder vielmehr das, was von ihr übrig war. Sie war an der tiefsten Stelle in die Schlucht gesprungen, hundert Meter freier Fall. Unten schlug sie auf, ohne das Kind losgelassen zu haben. Es muss in der Hölle gedröhnt haben, als sie da unten aufs Dach aufschlug.
Hoffentlich hat man den Bauern zur Rechenschaft gezogen, sagt der Junge.
Bist du noch immer so ein Kindskopf?, wundert sich Hjalti. Der war eines von den hohen Tieren, Saufkumpan des Gemeindevorstehers und des Pfarrers. Es wurde verbreitet, die Mutter hätte den Verstand verloren, die Mistkerle sind alle alt geworden und eines frohen Todes gestorben. In diesem Land wird nur bestraft, wer nichts an den Füßen hat. Hast du das noch nicht mitbekommen? Die anderen bekommen ihre Strafe höchstens im Märchen. Bis jetzt hat sie sich neun Männer geholt. Die Norweger haben sich lediglich auf einer Sauftour verirrt. Sie waren in die Berge gegangen, um Schneehühner zu jagen. Neun liegen schon unten, einer fehlt noch. Eigentlich sollte ich zu ihr runter, auf die Weise dem Schnapsteufel ein Schnippchen schlagen und sie da unten ein bisschen trösten. Aber merkt euch das, wenn es plötzlich und ziemlich steil abwärts geht, dann sind wir über den Berg und an der Stelle angekommen, die Schlucht ist in solchem Höllenwetter wirklich eine Gefahr. Der Weg führt dicht an ihr entlang, und die Schneeüberhänge brechen unter dem Gewicht eines Menschen schnell nach unten weg. Genau dadurch sind auch ein paar von den anderen schon verschwunden.
Wie weit ist es noch bis zu der Stelle?, fragt der Junge so müde, dass er Kraft aufwenden muss, um die Frage zu stellen. Hoffentlich nicht weiter als eine halbe Stunde, denkt er dabei, mehr schaffe ich nicht.
Eine halbe Stunde, antwortet Hjalti, bei halbwegs passablem Wetter. Unter den jetzigen Umständen drei Stunden, nicht weniger, zumindest wenn wir den richtigen Weg finden, man kann sich nämlich leicht verlaufen, dem Teufel in die Arme laufen und erfrieren.
Und es wurden keine verdammten drei Stunden.
Es geht sicher schon wieder gegen Abend, als sie endlich die Richtung ändern, diesmal nach Süden, da haben sie den Wind fast im Rücken und müssen Kraft aufwenden, ihre erlahmende Kraft, um sich und den Sarg zu bremsen, damit sie nicht in fliegender Fahrt abgehen, denn es geht jetzt abwärts, in Gottes Namen, es geht abwärts. Hjalti hält an, sie stemmen sich gegen den Schlitten, der immer weitergleiten würde, wenn sie ihn nicht festhielten. Sie müssen sich fest einstemmen, und trotzdem wirft der Sturm sie wütend hin und her.
Hier, ruft Hjalti, hier unterhalb liegt ein Abhang mit sehr steilem Gefälle, und das über
Weitere Kostenlose Bücher