Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
aufheben können, keine Sätze, die mächtig genug sind, das Unmögliche zu übersteigen? Die Bergwand fällt jetzt nahezu lotrecht ab, der Schlitten bekommt einen Stoß, sackt plötzlich ein, richtet sich ebenso schnell wieder auf, der Junge schlägt mit dem Gesicht hart auf den Sargdeckel, die kalte Haut platzt, warmes Blut färbt den Sarg rot; da hört die Frau endlich auf zu lachen, und nun weint sie, weint aus Sehnsucht nach ihrem Leben, das vorbei ist und nie wiederkommt. Die Frau weint, der Junge schreit und fühlt, dass der Sarg unter ihm immer lockerer wird und allmählich auseinanderfällt. Er öffnet die Augen und kann durch die Fugen sehen, ihn befällt kurz der Gedanke, abzuspringen, aber die Geschwindigkeit ist zu hoch, außerdem möchte er den Sarg nicht verlieren, denn dann würde man die Frau wohl nicht vor dem späten Frühjahr finden. Andere Menschen würden den Verwesungsgestank wahrnehmen, das Summen der Fliegen, das frohlockende Krächzen eines Raben, der am Berg entlangstreichen würde mit einem Auge im Schnabel, und das darf nicht passieren, das kann er den Kindern nicht antun, und auch ihr nicht, der das Lachen vergangen ist und die nur noch aus Verlangen nach dem Leben und nach ihren Kindern weint. Sie hat ihn und Jens im Unwetter gesucht, damit sie sie in geweihte Erde bringen sollen, und sie hat ihnen dabei das Leben gerettet. Er beugt sich tiefer über den Sarg und will ihr sagen: Ich werde dich nicht enttäuschen, doch da verschwindet die Erde, urplötzlich und voll und ganz; der Schlitten, der Sarg und der Junge hängen in der leeren Luft.
Er lässt los oder verliert den Halt, schreit noch einmal, und richtet sich dann auf, höher und höher, und dann setzt der Fall ein. Vielleicht in die Schlucht, dann wird er bald mit größerer Wucht auf die Erde schmettern, als das Leben es erträgt. Ein paar Atemzüge lang ist alles still um den Jungen.
XVI
Du bist einfach unglaublich, sagt der Junge zu Jens. Er ist in einer weichen Schneewehe gelandet und unverletzt. Wie um alles in der Welt hast du mich jetzt wieder gefunden?
Darauf antwortet Jens nicht, er sagt bloß: Meine Güte, was kannst du rennen. Dann fällt sein Blick auf Ásta in den Trümmern ihres Sargs. Ihre Augen sind geschlossen, der Mund ist wie zu einem Grinsen geöffnet. Ihre Zähne sind gelbbraun. Jens tritt zu ihr hin. So siehst du also aus, sagt er. Um ihr Gesicht zu sehen, muss er in die Hocke gehen. Ihre Beine stecken weit über die Hälfte im Schnee. Jens scheint es wie selbstverständlich zu nehmen, dass die Frau, die vor Kurzem noch im Sarg lag, jetzt grinsend im Schnee steht, zwar ein bisschen schief, aber ihr linker Arm zeigt steif in den Sturm. Geht da lang, sagt er. Nicht wenig erstaunlich ist allerdings, wie schnell und mühelos Jens den Jungen gefunden hat. Der Schlitten ist auf seiner rasenden Abfahrt manchmal geradeaus gelaufen und manchmal zu den Seiten ausgebrochen und weit vom Kurs abgekommen, Jens ist schwerfällig hinterhergelaufen, gefallen, einige Dutzend Meter steuerlos auf seinen Posttaschen abwärts gerutscht, dabei mit Armen und Beinen rudernd wie ein grotesker riesengroßer Käfer in dem Versuch, nach links und damit weg von der drohenden Schlucht zu kommen, ihr sausendes Pfeifen wesentlich näher, als ihm lieb war. Durcheinander und ohne Orientierung ist er schließlich auf die Füße gekommen, hat sich ein paarmal im Kreis gedreht, nach Hjalti gerufen und nach dem Jungen, einige Male sogar in sein Posthorn gestoßen, ohne eine andere Antwort als die des Windes zu bekommen, und dann ist er weitergelaufen, der Untergrund war nun wieder eben, und schließlich durch einen unbegreiflichen Zufall auf den Jungen gestoßen. Der erkundigt sich nach Hjalti.
Der kommt schon durch, sagt Jens, und wahrscheinlich sogar leichter, wenn er nur die Verantwortung für sich allein trägt. Wir müssen weitergehen.
Ich kann nicht aufstehen, sagt der Junge. Ich bin fertig. Ich will mich nur noch hier ausruhen. Irgendwann lässt der Sturm nach und es wird wieder heller.
Irgendwann ist eindeutig zu spät. Ist dir kalt?, fragt Jens.
Nein, antwortet der Junge.
Jens: Das ist schlecht.
Junge: Ich kann’s hier ganz gut aushalten. Warum sollte ich da aufstehen? Dann wird mir nur wieder kalt.
Jens: In solchem Wetter ist das Gefährlichste von allem, wenn einem nicht länger kalt ist. Du schläfst innerhalb einer halben Stunde ein.
Junge: Und wachst nicht wieder auf?
Jens: Nicht mehr als unsere Ásta hier.
Beide
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