Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
nicht mehr, hat längst damit aufgehört, er schließt die Augen, um sie vor dem Schnee und der Kälte zu schützen, er hört ihr gemeines Gelächter, das langsam seinen Kopf ausfüllt, mit Kälte, die sich als Reif auf allen Erinnerungen und Träumen niederschlägt, ewiger Winter bricht an. Fühlt es sich so an, wenn man stirbt, denkt er und öffnet den Mund. Zuerst in der Hoffnung, das könnte die Kälte lindern und würde die Frau verstummen lassen, dann schreit er los. Vielleicht ist es eine Reaktion des Lebens, vielleicht eine Reaktion auf alles, was hinter ihm liegt. Auf den Tod derer, die ihm etwas bedeutet haben. Vielleicht schreit er vor Enttäuschung, vor bohrender Ungewissheit, die ihn nie verlässt, vielleicht schreit er, weil er Gewissensbisse hat, am Leben zu sein und am Leben festzuhalten. Er schreit, und in diesem Schrei steckt alles, was verloren gegangen ist, er schreit, und in diesem Schrei liegen die letzten Tage, die er mit Jens zusammen unterwegs war. Der Schlitten rast einen steilen Berghang hinab, er hockt rittlings auf einem Sarg, der heftig erschüttert wird und dabei ist, sich in seine Bestandteile zu zerlegen und vom Schlitten zu rutschen, die Frau in seinem Kopf lacht und lacht, und er schreit auch deshalb, weil auf seiner rechten Seite eine pechschwarze Schlucht klafft, auf die der Schlitten manchmal zurast, und vielleicht schießen sie bald über die Kante und dann beginnt der Sturz, der gnadenlose freie Fall, bis er unten auf dem Boden der Schlucht aufschlagen wird, als der Zehnte. Er schreit vor Angst, er schreit, weil er noch am Leben ist, weil er mehr verloren hat, als sein Herz erträgt, weil er und Jens sich so lange über die Berge und durch diesen Schneesturm gekämpft haben und das Leben nur noch an einem Faden hängt, der in der Kälte immer spröder und brüchiger wird; er schreit, weil an der Winterküste ein kleines Mädchen so schrecklich hustet, weil die Augen des Mädchens so klein sind wie Moortümpel im Sommer, weil es hustet und hustet und manchmal keine Luft mehr bekommt. Es soll niemand sterben, sagt es vor jeder Geschichte. Natürlich nicht, antwortet seine Mutter, und doch sind die Geschichten vollkommen wirkungslos gegen den Tod. Er schreit und hält sich an dem Strick fest, wird herumgeworfen, der Schlitten jagt weiter, er schreit, María kauert an der Winterküste neben der Feuerstelle und versenkt sich in ein Buch, als könne sie darin ein vergangenes Leben wiederfinden, das Leben eines siebenjährigen Mädchens, das gestorben ist und von dessen Leben nichts mehr übrig ist bis auf ein paar langsam verblassende Erinnerungen und einige Kinderzähne in einer rußigen Wand aus Grassoden. Der Junge schreit, und die Welt um Anna in Vík versinkt in dunklem Nebel, und Kjartans Welt auch, sein Nebel ist von anderer Art und noch dunkler; die letzte Flasche ist geleert, er kann nicht mehr schlafen, sitzt am Schreibtisch zwischen all diesen Worten, diesen nutzlosen Wörtern, denn was bedeutet ein Wort ohne einen anderen Menschen, was sind Worte ohne Berührungen und Zärtlichkeit? Kjartan lauscht, wie der Sturm gegen das Haus wütet. Was sind Worte, wenn du es nicht mehr erträgst, deine Frau anzufassen? Was bedeuten sie noch, wenn du aufgehört hast, an das Leben zu glauben? Der Junge schreit, er brüllt, er heult, weil vor fünfzig Jahren ein anderer Junge im Hochland erfroren ist, obwohl sein Vater ihn im Arm hielt und flüsterte: Verzeih mir, verzeih mir, bis seine Lippen dafür zu kalt wurden, und dann war der Vater auch gestorben, und jetzt erinnert sich niemand mehr an ihr Leben, bloß noch an ihren Tod. Wo sind die schönen Augenblicke ihres Lebens hin, zerfällt die Schönheit beim Tod ins Nichts? Der Hang ist endlos, es geht immer weiter und abwärts, abwärts, abwärts, vielleicht geradewegs in die Hölle; der Sarg löst sich auf, eine Tote und ein noch lebender Junge, der sich in Angst und Schrecken mit geschlossenen Augen an einen gefrorenen Strick klammert und schreit und brüllt, weil so viele hier um die Insel ertrunken sind, die See liegt voller Ertrunkener, und trotzdem gehen den Fischern immer bloß Fische ins Netz, keine Leichen. Der Junge schreit, weil wir nicht aufs Meer des Todes hinausrudern und die einsammeln können, die uns fehlen. Nachts wälzen wir uns in unaussprechlichen Qualen. Was können wir nur tun, um die zurückzuholen, die zu früh von uns gegangen sind? Ist das Leben so machtlos, und gibt es keine Worte, die das eherne Gesetz
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