Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ist.
Er: Dichtung ist die Welt hinter der Welt, und sie ist schön.
Sie: Gísli tut bloß, was man ihm sagt. Du weißt überhaupt nichts von ihm, du hast keine Ahnung, worauf es ankommt, nicht die blasseste Vorstellung, worum es geht.
Er: Dichtung ist besser als Salzfisch. Sogar besser als ein Dampfschiff.
Sie: Papa sagt, Leuten wie dir ist kaum zu helfen. Ihr werdet ganz arme Schlucker und krepiert vor Hunger, wenn man euch nicht unter die Arme greift.
Sie zittert ein wenig, es ist kühl, und sie trägt bloß einen dünnen Pullover über dem Kleid, die rote Brosche glitzert.
Dichtung kann gefährlich werden, sagt er, vielleicht weil sie so zittert, vielleicht weil er an ein lebensgefährliches Gedicht und die letzten Worte des Lebens draußen auf dem Meer denken muss, an Bord eines Sargs: Nichts ohne dich ist süß. In dem Moment tritt sie so dicht an ihn heran, dass man befürchten muss, sie wolle ihn umarmen, aber das tut sie natürlich nicht. Im Sommer, sagt sie, will ich bei Sonnenschein ausreiten.
Was soll ich dann sein, fragt er, das Pferd oder der Sonnenschein?
Es ist noch nicht Sommer, antwortet sie, nicht einmal Frühling.
Helga schneidet Kolbeinn gerade die Fingernägel, als der Junge in die Küche kommt. Sie selbst ist auch erst vor Kurzem nach Hause gekommen und ihre Haut noch von der Kälte gerötet. Der Käpt’n hält die Hände von sich abgespreizt, als sollten sie nicht zu ihm gehören.
Sind sie gut weggekommen?, fragt er.
Ja, draußen hat sie ein wenig gestampft.
Die See hält das Wetter lange in sich, sagt der alte Mann.
Ja, sagt der Junge.
Nichts ist wie das Meer, sagt Kolbeinn.
Und Helga: Du vermisst es.
Vermissen?, fragt Kolbeinn. Davon weiß ich nichts. Kann man die Welt vermissen? Ich glaube kaum.
Was kann man denn vermissen?
Wenn ich das mal wüsste, zum Teufel! Was glaubst du, wer ich bin? Vermisst du nicht manchmal einen Kerl?
Du bist doch da.
Du weißt genau, was ich meine.
Damit muss ich selber fertig werden.
Na dann, ich vermisse jedenfalls nichts.
Nicht einmal dein Sehvermögen?, erkundigt sich der Junge.
Kolbeinn dreht und schraubt den kantigen Schädel, als ob es ihn juckte, oder vor Unmut. Es wäre schön, manchmal wieder lesen zu können oder das Meer zu sehen, aber dann müsste ich mir auch das Leben sonst angucken, sagt er. Ich würde gern noch mal auf See gehen.
Der Junge soll ins Wohnzimmer kommen. Geirþrúður sitzt da an dem großen, mächtigen Tisch mit einem Zigarillo zwischen den Fingern der linken Hand, die gleichzeitig noch ihre Stirn stützt. Das lange Haar ist hochgesteckt, allerdings in flüchtiger Eile, einige Locken hängen lose herunter und ringeln sich wie Überbleibsel finsterer Nacht Geirþrúðurs weißen Hals hinab. Sie blickt kurz auf, als er eintritt, liest dann aber weiter in den Alþing-Nachrichten und bewegt sich nicht, außer wenn sie den Zigarillo an die roten Lippen führt, diese »blutgefüllten Brauen der Mundöffnung«, und den Genuss einsaugt.
Du solltest das Althingblatt lesen, bemerkt sie.
Das kann ich nicht, bekennt der Junge geradeheraus. Das ist wie in einer fremden Sprache geschrieben.
Sie blickt auf, mit all ihren Sommersprossen, zieht am Zigarillo, die Glut knistert leise und frisst sich weiter hinauf. Ihre Haut um die blutgefüllten Lippen wirkt glatt, aber von den Augen laufen Fältchen aus, die sich vertiefen, wenn sie die Augen zusammenkneift.
Schon, aber es ist die Sprache der Macht, und die muss man beherrschen, wenn man durchkommen will, sagt sie und hat jetzt diese leichte Heiserkeit in der Stimme, das Rabenkrächzen.
Muss ich die Macht auch verstehen?, fragt er und sieht Geirþrúður dabei an, als würde er um ihr Einverständnis bitten, sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, legt den halb gerauchten Zigarillo weg, hebt den Arm und zupft das Haar zurecht: Nicht mehr, als du möchtest, denn die Macht gehört den Männern, und du bist trotz allem ein Mann, auch wenn wahrscheinlich mehr vom Himmel als von einem Kerl in dir steckt.
Ich bin alles andere als himmlisch.
Ich spreche in Gleichnissen.
Und was ist mit Kolbeinn?
Er hat schon wenig gesehen, bevor er sein Augenlicht verlor.
Muss ich mir also erst die Augen ausreißen, um etwas zu sehen?
Das wäre schon mal ein guter Anfang.
Bist du unglücklich?, fragt der Junge spontan.
Geirþrúður stemmt die Ellbogen auf den Tisch und legt ihr schmales Kinn auf die Handrücken. Was ist Unglück?, fragt sie.
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