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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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links. Das Meer ist grau und unschuldig und scheint nicht das Geringste auf dem Gewissen zu haben. Die Winterküste erhebt sich weiß wie ein Gletscher aus dem grauen Meer. Im Haus des Arztes stehen zwei Fenster weit offen. Bestimmt ist die ganze Post, die Jens mitgebracht hat, längst sortiert und in den Taschen verstaut, die in die umliegenden Trakte gebracht werden müssen – eine Aufgabe für die etwa fünf Hilfspostboten, die unterschiedlich schwierige Routen haben. Der Junge blickt nach rechts und sieht Ólafía langsam durch den Schnee aufs Haus zukommen. Er schließt das Fenster, fährt schnell in seine Kleider und läuft dann nach unten, wo er es schafft, die Tür aufzureißen, bevor Ólafía anklopfen kann. Sie schenkt ihm ein Lächeln zur Belohnung. Das Leben kann doch schön sein, wir müssen nur verstehen, ihm die Tür zu öffnen.
    Brynjólfur steht gegen neun Uhr auf. Die Hoffnung soll heute auslaufen, Snorris Kutter, den manche auch Enttäuschte Hoffnung nennen. Sie liegt längst zum Auslaufen bereit, aber das Wetter hat allen einen Strich durch die Rechnung gemacht, eine ganze Woche lang war die Welt verschwunden, Sturm und Dunkelheit hatten sie verschluckt und erst heute morgen wieder ausgespuckt, ganz weiß und rein, die letzte Brise schmeichelt um die Häuser wie eine Bitte um Entschuldigung. Zwei Dinge hat Brynjólfur vor, zum einen muss er sich von seiner Frau verabschieden und zum anderen möchte er den Jungen dabeihaben, wenn sie das Schiff zu Wasser lassen.
    Den Jungs, hebt er zur Erklärung an und meint mit Jungs seine Besatzung, zehn raue, mit Seewasser gewaschene Männer, die meisten um die sechzig mit Gesichtern wie alter Fels und einer vom Meer gesalzenen Sprache. Also, den Jungs und eigentlich auch mir wäre wohler, du wärest dabei, wenn wir die alte Hoffnung ins Wasser setzen, sagt Brynjólfur, und dabei fällt sein Auge auf seine Frau im Flur, er verstummt und weiß nicht, was er sagen soll. Du hier?, fragt er schließlich, und sie nickt. Zwischen ihnen liegt eine tiefe Kluft aus Enttäuschungen, Trunksucht und der unbegreiflichen Gnadenlosigkeit des Alltags. Jeder von ihnen steht auf seiner Seite am Rand dieser Schlucht, und sie blicken sich in die Augen.
    Endlich laufen wir aus, sagt er schließlich.
    Sei vorsichtig, sagt sie, und sie meint es auch.
    Sei vorsichtig.
    Zwei Wörter, die sich wie Silber über die Tiefe spannen und für wenige Momente von einem Rand der Schlucht zum andern aufglänzen, aber als er zögert und ihrer Tragkraft nicht traut, wird das Silber matt, bröckelt in die Tiefe und ist verschwunden.
    Der Junge holt seine Überkleider, er fragt Helga nicht einmal, obwohl er seine Arbeit stehen und liegen lässt, aber bei so einer Bitte zögert man nicht, sie abzuschlagen würde die Seeleute verunsichern und womöglich sogar Befürchtungen wecken, draußen auf dem Meer könnte etwas Dunkles und Unheilvolles auf sie warten: Fangpech, ein Unglück, Tod. Ein Seemann, dem von vornherein eine solche Vorahnung oder Furcht im Blut steckt, streicht vor dem tobenden Aufruhr von Himmel und See schneller die Segel, und eine solche Resignation kann das ganze Schiff ins Verderben stürzen. Menschen, die am Ende der Welt leben, sterben wie die Fliegen, wenn sie nicht zusammenhalten. Das Einzige, was Helga tut, ist, dass sie etwas Geld holt und dem Jungen aufträgt, auf dem Rückweg die eine oder andere kleine Besorgung in Tryggvis Laden zu machen. Dann treten sie hinaus in die Morgenstille.
    Eine Stunde später schaukelt die Hoffnung gemächlich davon, taucht aber bald tüchtig ein, als sie weiter nach draußen kommt. Nach dem stürmischen Wetter der letzten Tage ist die See noch aufgewühlt; das Meer bewahrt den Sturm wie eine Erinnerung in sich auf. Der Junge geht zurück und hat keine Eile. Die Kiesbank ist lang, läuft in Richtung der Ortschaft schmal zu und verbreitert sich dann wieder. Unter dem Schnee warten Steine auf den Sonnenschein und den Trockenfisch des Sommers. Er geht an der Faktorei vorüber, in der der Oberbuchhalter von Tryggvis Handel wohnt, bleibt stehen, blickt sich um, betrachtet die Berge, die Häuser, die schweren Wolken; es ist immer schöner, allein zu sein als unter Leuten. So ist es jedenfalls gewesen, seit sein Vater ertrank, seit er mit seinen gebrochenen Augen im dunklen und salzigen Imperium der See versank, mit seinen Armen und seiner Gegenwart, die alles leichter gemacht hatte, mit seinen roten Haaren und all den unausgesprochenen Worten, mit

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