Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
seiner Liebe in sich, dieser unglaublichen Kraft, die so leicht die Welt verändern kann, aber auch so vollkommen nutzlos ist, wenn man in Sturm und Dunkelheit gegen die Wogen des Ozeans um sein Leben kämpft. Kann irgendetwas ihn von dort unten aus der Tiefe wieder heraufrufen, lässt das Meer die, die es einmal verschluckt hat, jemals wieder los? Er hat Tryggvis Laden betreten, und sein Herz beginnt so schnell zu klopfen, als habe er nie jemanden vermisst, als sei nie jemand ertrunken, gestorben, erfroren. Warum verleiht ihm die Trauer, das schmerzhafte Vermissen von Menschen, die nie zurückkehren, nicht eine Art Würde und Abgeklärtheit gegenüber dem Leben? Ragnheiður unterhält sich gerade mit einer großen, etwas breit geratenen Frau, es ist ihre Tante Lovísa, die Frau von Bezirksrichter Lárus. Kundschaft und Ladengehilfen halten sich in respektvollem Abstand. Lovísa spricht laut, wie es Menschen tun, die es nicht nötig haben, ihre Stimme zu senken; sie schimpft auf die schlechten Zeiten und darüber, dass in diesem Frühjahr bisher so wenig Schiffe gekommen seien, sofern man überhaupt von Frühjahr sprechen könne. Recht hat sie! Oder kann man es etwa Frühling nennen, wenn das Land noch stumm unter Schnee liegt, wenn Kälte den Himmel blank fegt und ihn über den Wolken noch immer blauer und kälter werden lässt? Es stimmt, dass nur wenige Schiffe gekommen sind, es herrschen ungünstige Winde, die Segelschiffe sind weit auf dem endlosen Meer umhergetrieben worden, einige sind untergegangen, andere haben Schutz in weit entfernten Fjorden gesucht, nur Dampfschiffe sind einigermaßen ungehindert hierhergekommen, das letzte vor einer Woche, die Laderäume voller Salz, denn ohne Salz kein Salzfisch, ohne Salzfisch kein Leben oder bestenfalls ein halbes. Der Dampfer lag ein paar Tage im Hafen, der Kapitän blieb die ganze Zeit über im Hotel und trank mit Gísli Toddy und Rum. Wir kennen diesen schneidigen Kapitän mit den buschigen Augenbrauen, na ja, was heißt schon kennen, jedenfalls schippert er seit gut zwanzig Jahren hierher, zuerst auf einem Segelschiff, neuerdings mit einem Dampfer, dessen schwarzer Qualm schon von Weitem zu sehen ist, als ob die Hölle käme, um uns abzuholen, hatte Gísli zu Þorvaldur gesagt, als sie sich zufällig bei der Kirche begegnet waren und das unter schwarzem Qualm heranstampfende Schiff beobachtet hatten.
Im Gegensatz zu dir bereue ich meine Sünden und habe deshalb wenig zu befürchten, hatte Séra Þorvaldur seinem Bruder trocken geantwortet. Der Kapitän des Dampfschiffs brachte kleine Geschenke für die Mitglieder der besseren Familien mit, Pralinen und Romane für Lovísa und ihre Schwester, eine rote Brosche für Ragnheiður, einen Revolver aus Amerika für Friðrik, und Gísli bekam eine Gedichtsammlung in rotem Einband mit Goldschnitt.
Nur tote Dichter bekommen eine solche Ausgabe, murmelte er und strich über das Buch. Der Kapitän verstand nicht. Only dead poets are golden, übersetzte Gísli. Da zückte der Kapitän ein anderes Buch. Ganz recht, sagte er, aber in dem hier fehlt es auch nicht an goldigen Schätzchen.
Gísli schlug das Buch auf, einen schön in Blau gebundenen Bildband. Hoffentlich ist denen nicht kalt, bemerkte er und überflog rasch einige Aufnahmen von halb nackten Frauen.
Einer der Ladengehilfen bedient den Jungen, der es aufgegeben hat, auf Ragnheiður zu warten, und nicht länger nutzlos im Laden herumstehen will. Sein Wunsch ist rasch erfüllt, er beeilt sich, zu gehen, fast flieht er. Schultern aus Mondenschein. Ja, aber der Mond ist weit weg, und auf seiner Oberfläche ist es bestimmt einsam; sie ist die Tochter Friðriks, die Tochter der Macht, von da kann nichts Gutes kommen, denkt er, so damit beschäftigt, sich von ihr loszusagen, den Mondschein zu verleugnen, dass er die Schritte nicht hört und nichts merkt, bis ihn jemand fest an der Schulter packt.
Du hättest warten sollen, sagt sie eingeschnappt und schnippisch.
Das konnte ich doch nicht wissen, murrt er, gleich nervös geworden; schon hämmert das Herz schneller, pocht gegen den Brustkorb. Sie stehen sich gegenüber, kaum eine Armeslänge auf Distanz, er hört wie sein Blut klopft.
Jetzt hast du Gísli kennengelernt, sagt sie.
Stimmt.
Er ist sehr gebildet.
Ja.
Sie: Er ist ein Säufer. Und ein Schwächling. Weil zu viel Literatur die Leute schlapp macht, sie lassen sich zu nichts mehr gebrauchen und werden häufiger krank, sagt Papa, und du weißt, wer er
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