Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Verbrecher an den Füßen aufgehängt. Der Junge las, er nahm sie mit sich. Kolbeinn saß reglos in seiner Dunkelheit, und Shakespeares Worte drangen in sie ein wie leuchtende Fackeln.
Was wünscht Ihr, gnäd’ge Frau? Wie geht es Euch?, fragt der Bösewicht Jago Desdemona, die noch in ihrem Unglück so schön ist. Ich weiß es nicht, antwortet sie, und das ist eine gute Antwort, denn was wollen wir wirklich, warum sind wir vor Angst gelähmt, woher kommt dieses heimliche Verlangen, was hat das Leben mit uns vor? Ich weiß es nicht, antwortet sie. Ein wahres Wort. Wir tasten uns durchs Leben und fallen mit dem Tod ins große Unbekannte. Ich weiß es nicht, sagte Desdemona und wollte weitersprechen, obwohl sie wahrscheinlich schon alles gesagt hatte, aber da hörte man jemanden laut ins Haus poltern. Helga schlug die Augen auf. Das ist wahrscheinlich Jens, sagte sie. Der Junge ließ das Buch sinken, sein Finger blieb auf Desdemonas Antwort liegen, bereit, weiterzulesen, da kam, weiß von Schnee, der Briefträger ins Zimmer gepoltert. Er torkelte über den Fußboden und schaute sich um, als sei er überrascht, sie zu sehen, und genauso überrascht, in einem festen Haus gelandet zu sein. Er drehte sich um die eigene Achse: Wo ist das Schneefegen? Wo ist der Wind? Dabei blieb er mit dem Fuß an einem Stuhl hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte, es dröhnte durchs ganze Haus, und da lag er dann. Im wahrsten Sinne sturzbetrunken. Hatte lange bei Marta im Sodom gesessen, Ágúst hatte derweil krank in einer kleinen Kammer hinter dem Schankraum gelegen. Eigentlich hatte Jens den Hilfsbriefträger Guðmundur aufsuchen wollen und war zu ihm unterwegs, als der Sturm ihm den Jungen in die Arme wehte. Er wollte sich ein paar Tipps geben lassen, die bei schlechtem Wetter oben in den Bergen und auf schmalen unsicheren Saumpfaden unter Umständen den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnten. Welche Abschnitte man besser mied, welchen Gipfel man am besten im Auge behielt, um frühzeitig einen Wettersturz vorauszusehen, auf welchem Hof man am ehesten Rat und Hilfe fand, welchem Weg man folgen konnte und welchen man besser nicht benutzte. Aber der Hilfsbriefträger ist ein Liebling von Sigurður, und das reichte, damit Jens sich dann doch entschloss, ihn nicht aufzusuchen und stattdessen gleich ins Sodom zu gehen. Da saß er dann Marta gegenüber, sah ihr zu, wie sie rauchte, wie sie ein Buch über Napoleon las, das ihr Gísli geliehen hatte, sah ihr zu, wie sie Bier trank. Zuweilen achtet Marta nicht genug auf ihr Äußeres und scheint für das hungrige Flackern in den Augen der Männer gänzlich unempfänglich zu sein – aber in manchen anderen Nächten ist sie wie ein einziger Schrei. Jens hatte getrunken, kurz mit Ágúst geredet und sich erkundigt, ob er am nächsten Tag das Boot haben könne, aber als gleich vier Gäste auftauchten, floh er die Gesellschaft und lief zu Snorri, saß lange bei dem Kaufmann, trank auch dort zu viel, polterte schließlich in Geirþrúðurs Haus und lag dort am Ende bis zur Besinnungslosigkeit betrunken im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Es kostete sie einige Mühe, ihn ins Bett zu bringen. Er war schwer, wog mindestens hundert Kilo und war völlig bewusstlos. Aber sie schafften es, und Kolbeinn lehnte an der Wand, alt, traurig, unnütz. Was ist los? Wenn wir das nur wüssten. Wir wissen nicht einmal richtig, warum wir überhaupt fragen, wissen nur, dass irgendwas los ist, dass wir nicht so leben, wie wir es sollten. Und der Tod wartet auf jeden von uns.
Jetzt gehen wir schlafen, sagte Geirþrúður.
Helligkeit weckt den Jungen.
Das Morgenlicht holt ihn aus dunklen Tiefen hinauf. Er setzt sich auf, blinzelt, als wolle er nachsehen, ob er noch am Leben sei, streckt den jungen, weichen Körper, geht ans Fenster, zieht die Gardine auf, öffnet das Fenster und streckt den Kopf nach draußen, um Nacht und Träume abzuschütteln. Es ist fast windstill. Der Sturm ist abgezogen und hat eine ferne und zahme leise Brise hinterlassen. Der Junge genießt den kalten Lufthauch auf der bloßen Haut, atmet den Morgen und das Licht so tief ein, wie er kann. Die Häuser gegenüber sind weiß, und die Welt ist friedlich. Wer weiß, vielleicht kommt am Ende doch noch der Frühling, vielleicht schafft er es, die ungeheuer tiefen und gefährlichen Fjorde im Süden einen nach dem anderen hinter sich zu lassen und bis hierher vorzudringen. Der Junge beugt sich weiter aus dem Fenster und blickt nach
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