Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
unsagbar geliebt, mehr als das Leben, wir waren fest entschlossen, euch zur Schule gehen zu lassen, auch Lilja, und wenn wir uns kaputt gearbeitet hätten.«
So war das also:
Ein Pferd hatte gescheut, und deswegen war er zur Welt gekommen.
Es gibt eine kleine Planänderung, sagt Helga wie aus weiter Ferne.
Eine Änderung?, fragt der Junge erschrocken, und seine innere Aufgewühltheit legt sich. Ja, eine Änderung, oder eher eine Verzögerung, er soll nämlich noch einmal los, zum Ende der Welt. Dorthin, wo Island endet und der ewige Winter beginnt. Snorri ist vorhin gekommen, wegen Jens, der die Nacht beim Kaufmann verbracht hat, nachdem er zunächst im Sodom gelandet war. Was hatte er denn im Sodom zu suchen?, hat Helga gefragt.
Wahrscheinlich das Gleiche wie alle anderen auch, warf Geirþrúður ein.
Schon, meinte Snorri, aber auch um nach dem Kahn zu fragen und nach Ágúst, damit der ihn zur Winterküste übersetzt. Aus irgendeinem Grund hat Sigurður Jens dazu überredet, als Aushilfsbriefträger die Tour in den Norden zu übernehmen; er hat ihn wohl regelrecht eingewickelt.
Eingewickelt?, fragt der Junge.
Ja, wahrscheinlich, um ihn fertigzumachen, erklärt Geirþrúður.
Kann es denn keinen anderen Grund geben?, fragt Helga.
Sigurður ist ein Schwein, wie all diese hohen Herren, wirft Kolbeinn dazwischen. Sonst hätten sie ihn nicht als Schwiegersohn akzeptiert.
Helga: Man muss doch nicht immer nur das Schlimmste von den Leuten annehmen.
Geirþrúður: Es fällt aber oft schwer, das nicht zu tun. Kann ja sein, dass die Welt gut ist, der Mensch ist es nicht.
Aber warum soll ich ihn denn begleiten?, erkundigt sich der Junge.
Jens hat Angst vor dem Meer, antwortet Helga, er kommt in dem Kahn niemals alleine über das Djúp. Der große und starke Kerl würde durchdrehen. Und dann muss er auch noch über den Dumbsfjörður. Er braucht jemanden, der ihn übersetzt, jemanden, der mit ihm Schritt halten kann, und nicht zuletzt jemanden, der nicht über seine Angst vor dem Wasser herzieht. Du kennst das Meer, und du kannst marschieren.
Wann gehen wir?
So bald wie möglich, sagt Helga und beugt sich zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Es ist noch immer bedeckt. Bevor es wieder anfängt zu schneien und der Wind aufkommt, fügt sie hinzu.
Ist das schon mit ihm abgesprochen, dass ich mitgehen soll?, fragt der Junge.
Nein, sagt Helga.
Ob er überhaupt damit einverstanden sein wird?, zweifelt der Junge.
Er wird überhaupt nicht gefragt. Aber schlafend kommt man nicht weit, wir müssen ihn wecken, sagt Geirþrúður, doch da ist ein lauter Knall zu hören, und Jens rappelt sich in seinem Zimmer vom Boden auf.
Er hat geträumt, etwas Dunkles würde ihn über die Kante eines Abgrunds schieben, lange hat er Widerstand geleistet, dann verließen ihn die Kräfte und er fiel, fiel in die schwarze, saugende Tiefe und hörte unten das Meer, er fiel und wachte davon auf, dass er sich auf dem Fußboden wiederfand. Er blickt um sich und rätselt über das Blau, das ihn umgibt, er erschrickt, liege ich auf dem Grund des Meeres, denkt er, bin ich ertrunken? Aber es ist nicht der blaue Tod des Meeres, sondern das segensreiche Licht des Himmels. So schwer können sie zu unterscheiden sein.
So ist das also: Der Abstand zwischen Leben und Tod ist so gering, dass er in ein einziges Wort passt. Darum sollst du mit Wörtern immer äußerst vorsichtig sein – zumindest eines von ihnen trägt den Tod in sich.
Der Tod bringt keine Versöhnung
Es fing alles mit dem Tod an, und seitdem ist alles verkehrt. Der Himmel zeigte das tiefste Blau, und wir lebten in dem Glauben, der Tod würde uns unmittelbar dorthin bringen, aber es sind Jahre vergangen, und wir sind nirgends hingekommen, sondern nach wie vor an diesen Ort gefesselt; wir starben und flogen nirgendwohin, sondern klemmen zwischen Leben und Tod wie Fliegen hinter den Wandpaneelen. Wenn du hinhörst, kannst du ein leises Summen vernehmen.
Der Tod bringt keine Versöhnung. Wenn es sie geben soll, findest du sie im Leben. Trotzdem wird nichts so überschätzt wie das Leben. Du fluchst auf die Montage, auf das Mistwetter und die Nachbarn, du verfluchst die Dienstage, die Arbeit und den Winter, aber all das wird im Bruchteil einer Sekunde verschwunden sein. Der Überfluss des Lebens wird zu nichts, es beginnt die Leere des Todes. Wie lange lebt der Mensch, wenn man alles zusammenrechnet? Wie viele Stunden in Reinheit sind ihm vergönnt, wie oft schlägt er Funken
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