Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
Ich bin zweimal verliebt gewesen. Ist das oft? Kann man die Küsse zählen oder wie oft man im Stich gelassen wurde oder die Gelegenheiten, bei denen man etwas empfunden hat, das man Liebe nennen könnte? Siebentausend Küsse, zwölf glückliche Stunden. Ist das viel oder wenig? Und was ist Glück, was sind Küsse? Man kann einen Menschen tausendmal küssen, und trotzdem ist er nie geküsst worden. Manchmal glaube ich, der Mensch ist zum Unglücklichsein verdammt.
Aber es gibt das Glück, sagt er trotzig wie ein Kind. Helgas Stimme dringt zu ihnen herein.
Du darfst nicht so viel auf mich geben, sagt Geirþrúður, die Welt ist vielfältiger und reicher als ein einzelner Mensch. Gunnhildur und Jón der Tischler sind glücklich mit ihrem Sohn. Auf den ersten Blick scheint es keinen besonderen Grund für dieses Glück zu geben, aber trotzdem brauchst du bloß einen Blick auf sie zu werfen, und alle Traurigkeit löst sich in Wohlgefallen auf. Allerdings gibt es das Glück, stimmt’s nicht, Helga?, sagt sie, denn im gleichen Augenblick kommt Helga mit Kaffee und Brot auf einem großen Tablett herein und Kolbeinn tappt hinterdrein, auf seinen Stock gestützt; einem toten Stück Holz vertraut man leichter als einem lebenden Menschen, man braucht dafür auch nicht so viel Mühe auf sich zu nehmen.
Was soll stimmen?, fragt Helga, stellt das Tablett auf dem größeren Tisch ab und trägt die Tassen zu dem kleineren ins hintere Zimmer.
Dass wir nicht zum Unglücklichsein verdammt sind.
Jeder verdammt sich selbst, sagt Helga. Hast du mit ihm gesprochen?
Geirþrúður: Wir haben pausenlos miteinander gesprochen.
Helga, die gerade das Brot hinüberträgt: So?
Geirþrúður: Über Küsse und Unglück und die Sprache der Macht.
Helga: Dann sollten wir jetzt mal zur Sache kommen.
Sie sind in das hintere Zimmer umgezogen und haben sich um den dunklen Tisch gesetzt. Dort bleiben sie den Abend über, um dem Jungen beim Lesen zuzuhören, denn von diesem Zimmer aus ist es weiter bis zu den Fenstern, ein Stückchen weiter in die Welt.
Heute war es Zeit, etwas für deine Bildung zu unternehmen, fängt Helga an. Ich bin heute morgen zu Hulda und Gísli gegangen, um mit ihnen darüber zu reden. Hulda wird später vorbeikommen, um dir Englisch beizubringen, Gísli kommt morgen und wird dich in Isländisch, Geschichte und Literatur unterrichten, und ich werde versuchen, dir ein bisschen Rechnen beizubiegen, soweit ich mich damit auskenne. Bist du damit einverstanden? Gut, dann ist das geklärt, stellt sie fest, nachdem er gerade mit dem Kopf nicken konnte, zu mehr ist er im Moment sowieso nicht in der Lage.
»Der einzige Kummer deines Vaters«, steht in einem der Briefe seiner Mutter, von denen einige vom Lesen so abgenutzt sind, dass er sie wird abschreiben müssen, weil diese wichtigen Botschaften aus der Vergangenheit sonst bald verloren gehen werden. »Der einzige Kummer deines Vaters und vielleicht auch meiner war unser Mangel an Bildung, obwohl ich als Frau natürlich sowieso kaum oder überhaupt keine Möglichkeiten hatte, an eine Bildung zu gelangen, die auch den Namen verdient hätte. Als dein Vater zwölf Jahre alt war, sah es so aus, als könnte sein Traum bis zu einem gewissen Grad in Erfüllung gehen. Der Pfarrer bot an, dass er ihn zwei Jahre zu sich zu nehmen würde oder auch länger, falls er die Erwartungen erfüllen sollte. Zwei Tage vor seinem Aufbruch, dein Vater hatte längst alles zusammengepackt, was er mitnehmen wollte, es passte in ein Bündel, das er bequem unter dem Arm tragen konnte, und er konnte vor lauter Freude und Aufregung kaum noch schlafen, da fiel dein Großvater vom Pferd. Der Lump war auf dem Rückweg vom Handelsort und hatte sich wieder einmal volllaufen lassen. Das Pferd scheute, dein Großvater stürzte und kam nie wieder auf die Beine. Gelähmt quälte er sich noch ein Jahr im Bett, dann starb er. Dein Vater war das älteste Kind, und mit Müh und Not und indem er natürlich auf seine Ausbildung verzichtete, konnte er es bis zum Tod deiner Großmutter verhindern, dass die Familie aufgelöst wurde, und dann war dein Vater über zwanzig, die elende Hütte verschuldet und er zum Lernen zu alt. Der Schnaps hat mich um die Gelehrsamkeit gebracht, pflegte er zu sagen. Alkohol ist ein schädliches Teufelszeug, das ist wahr, und du solltest dich von ihm fernhalten, aber ohne ihn wären dein Vater und ich uns kaum begegnet. Was wäre das nur für ein Leben geworden? Ich habe deinen Vater so
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