Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
Vom Netzwerk:
warmes Wasser:
    Alle, die mir sind verwandt,
    Gott, lass ruhn in deiner Hand,
    alle Menschen, groß und klein,
    sollen dir befohlen sein.
    Kranken Herzen sende Ruh,
    müde Augen schließe zu.
    Gott im Himmel halte Wacht,
    gib uns eine gute Nacht.
    Langsam kommt der Schlaf über die Menschen in dem Erdhaus unter dem Schnee.
    Gott, lass ruhn in deiner Hand. Unsere Hände waren jahrzehntelang ausgestreckt, aber niemand hat sie ergriffen, weder Gott noch Teufel.
    Der Junge schläft allmählich ein. Fast nackt liegt er dicht an den Landpostboten gedrückt, dabei haben sie gestern noch kaum miteinander gesprochen. Er hält den kalten Leib umfangen, die Kälte steckt ihm in den Knochen, und einer derartigen Unterkühlung folgt manchmal der Tod. In Märchen darf niemand sterben, in der Wand des Kochhauses aber stecken die Milchzähnchen eines kleinen Mädchens, das vor gut einem Jahr gestorben ist. Der Junge denkt an seine Schwester, ihm fällt ein, wie sie gelacht hat, und dann ist er eingeschlafen.
    Schläft in einer Bauernstube an der Winterküste.
    Aus der Ferne wirkt sie wie ein geschlossener, lebloser Gletscher. Aber er befindet sich tatsächlich hier, auf dem Fußboden atmet ein Hund, in den Betten Menschen, im Stall steht eine Kuh, irgendwo unter dem Schnee liegen zwei Ställe voller Schafe. So ist das: Manchmal sieht man das Leben nicht, ehe man unmittelbar vor ihm steht, und darum sollten wir niemals aus der Ferne urteilen.
    Er erwacht von Kaffeeduft und liegt allein im Bett. Er bleibt liegen, solange die Träume aus ihm dünsten und zum Himmel aufsteigen, wo die Engel sie lesen, hoffentlich nur zu ihrer Unterhaltung und nicht, um sie zu notieren und am Jüngsten Tag vorzulesen, den meisten Menschen zur Beschämung. Dann richtet er sich auf und blickt um sich. Jens sitzt auf dem Bett gegenüber, er lebt also, die Tranfunzel in seiner Brust brennt noch. Ihre Blicken begegnen sich, aber sie sagen nichts, Wörter können ja auch so unklar sein, und die Kluft zwischen ihnen und dem, was sie als Gehalt mit sich führen, ist viel zu groß, der Abstand hat schon so oft zu Missverständnissen geführt und sogar Menschenleben gekostet. Jens schaut gerade die Posttaschen durch, die drei Kinder sitzen so nah bei ihm, wie sie sich nur trauen, der Hund vor ihm auf dem Boden beobachtet alles genauestens, kein Auge weicht von dem Briefträger, der in einer der Taschen kramt und schließlich wie ein bescheidener Zauberer ein weißes Blatt herauszieht und es aufs Bett legt.
    Das dürft ihr haben, sagt er.
    Die Kinder rühren sich nicht, sie starren das Blatt an, noch nie haben sie ein so weißes und leeres Stück Papier gesehen. Bisher durften sie höchstens auf den Rändern nicht mehr wichtiger Briefe malen und schreiben oder vielleicht kleine Tiere in die Ecken zeichnen, aber das hier ist ein ganzes Blatt, ein unbeschriebenes Blatt, auf so einem Blatt bringt man sicher ein ganzes Leben unter. Und dann bleibt einem noch die Rückseite! Aber sie wissen nicht, wie man sich für etwas bedankt, und deshalb trottet der Hund zu Jens und schiebt ihm die Schnauze in die große Hand.
    Gut, gut, sagt der Postbote verlegen, und der Junge kleidet sich an.
    Sie bekommen Kaffee und Grütze. Der Bauer, klein und mager, spricht nicht und hält meist den Blick gesenkt. Die Frau kommt mit kuhwarmer Milch aus dem Stall, die Kuh brüllt ihr nach: Wo ist das Licht? Wo ist das Frühjahr? Hat es nicht irgendwann frisches Gras gegeben?
    Der Junge isst langsam und liest dabei die Titel der Bücher auf dem Bord über dem Bett: Páll Melsteds Universalgeschichte, die Vídalínspostille, die Passionspsalmen, vier Isländersagas und einige Gedichtbände. Er schiebt seine Schale weg und schlägt zwei Bücher auf, sucht Gedichte heraus, sucht das, was die Welt größer machen kann, beim Lesen hat er die Lippen leicht geöffnet; er blickt auf und begegnet den Augen der Frau, die ihn so eindringlich und seltsam ansieht, dass er verlegen wird, das Buch an seinen Platz zurückstellt und zur Tür geht. Der Gang ist niedrig und schmal. Er öffnet die Tür, und der Tag fällt so blendend weiß herein, dass es in den Augen schmerzt. Er muss sie eine ganze Weile zusammenkneifen, um den Blick an diese Helligkeit zu gewöhnen. Es ist fast windstill und kühl, riesige Wolken hängen über der Welt, können sich kaum oben halten und sitzen im weiten Umkreis den Bergen auf, das Meer ist bleigrau und atmet schwer.
    Schneit es?, fragt Jens von drinnen und tritt dann ebenfalls

Weitere Kostenlose Bücher