Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
schnuppert sie lustlos ein wenig am Heu oder besser an diesem Heuabfall, der wahrlich keine Erinnerungen an Sommergras weckt. Vom Wintervorrat ist kaum noch etwas übrig, aber die Kuh bekommt noch das Beste, was da ist; die Schafe müssen sich mit Schlechterem begnügen. Die Kuh muht noch einmal, dann wird alles still bis auf ein leises Rascheln im Kochhaus.
Ob die Kinder eingeschlafen sind? Er lauscht, hört nichts und fühlt sich im Grunde traurig, denn Kinderstimmen bringen doch immer Licht in unser Leben. Er hält den Atem an, um besser zu lauschen, und da hört er ein unterdrücktes Husten, deutlich näher als vorher. Er richtet sich auf, um sich umzusehen, und da sitzen sie alle drei samt Hund gleich vor dem Bett auf dem Fußboden, mäuschenstill, und beobachten die Fremden. Acht Augen, rund vor Staunen, und eine Zunge, die dem Hund breit aus dem Maul hängt. Das Älteste, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren mit dunkelbraunen Augen, hält die jüngste Schwester auf dem Schoß, die vor unterdrückten Hustenanfällen bebt.
Wird der große Mann sterben?, fragt der Junge, der vielleicht sechs Jahre alt ist und ebenfalls braune Augen hat.
Ich glaube nicht, antwortet der Junge aus dem Bett.
Das ist gut, es würde nämlich schwer, ihn fortzuschaffen, du müsstest Mama und Papa dabei helfen.
Dann darf keiner sterben, kann das jüngere Mädchen noch sagen, ehe ein neuer Hustenanfall seine Stimme zerreißt, und diesmal hört der Husten erst wieder auf, nachdem der Vater eingetreten ist, das Kind aufgenommen und über die Schulter gelegt hat und ihm fest den Rücken reibt. Da erst wird es etwas besser, und das Mädchen mit blau angelaufenen Lippen kann die Augen öffnen und den Jungen ansehen. Seine Augen sind ebenfalls braun und erinnern an Sommer.
Der Junge darf noch nicht gleich schlafen. Er soll erst noch essen, und Jens am besten auch, eine heiße Suppe, Dorschköpfe, gekocht in einer Pampe aus Mehl und Milch. Der Junge schlingt, sein Körper verlangt Nahrung, aber Jens murrt nur und ist nicht zum Essen zu bewegen; er rollt sich zusammen, sinkt zurück in den Schlaf und sucht dort etwas Wärmendes, das glüht und den Frost aus den Knochen vertreibt, den kalten Kuss des Meeres. Er sinkt in Schlaf, und an seinem Grund treiben ertrunkene Menschen und wispern unablässig seinen Namen.
Draußen im Schneefall ist es Abend, die Nacht kommt.
Die Kuh muht, nicht laut, aber lange. Licht, wo bist du?, fragt sie wieder. Es steckt nicht besonders viel in einem Kuhschädel, nur wenige Sätze, die immer und immer wiedergekäut werden, aber Kühe stellen die wesentlichen Fragen, es ist im Allgemeinen beruhigend, bei den Kühen zu sitzen, Monotonie macht sie glücklich, und Glück ist der Schatz, nach dem alle Menschen ewig auf der Suche sind.
Die Kinder liegen im Bett, sie dürfen diese Nacht in einem Bett schlafen. Das ist uns zu verdanken, denkt der Junge, und ihr aufgeregtes Gewisper verstummt nicht, bis die Mutter ihnen Geschichten von einem Land erzählt, in dem immer schönes Wetter herrscht und sich sogar der Regen warm anfühlt, und eigentlich ist alles wunderbar, nur gibt es eine Hexe und ihr Gesindel, die Kinder rauben und schreckliche Dinge anstellen, das Gesindel ist feuerrot wie der Hass und seine Augen lodern, seine Arme enden in langen, messerscharfen Krallen.
In der Geschichte soll keiner sterben, sagt das kleine Mädchen.
Die leise Stimme der Mutter füllt den Raum, und die Kinder hören zu, der Hund, die Kuh im Stall, der Bauer und auch der Junge, der mit offenem Mund atmet. Dann ist das Märchen zu Ende, keiner ist gestorben, das können Märchen dem Leben voraushaben, die Lichter sind gelöscht, die Dunkelheit sackt alles ein. Der Hund rollt sich zusammen, winselt ein wenig vor sich hin und will schlafen. Hunde haben nur selten schlechte Träume, sie träumen von einem großen Brocken Fleisch, von blauem Himmel, weichen Händen und vom Herumtollen. Man hört weder die Menschen noch den Sturm, dann fängt die Kleine an, zu husten. Erst leise, als wolle sie es unterdrücken, den Husten nicht herauslassen, ein aussichtsloses Unterfangen, und dann bricht es aus ihr heraus, sie hustet und hustet, erstaunlich, dass ein so gewaltiger Husten in einem so kleinen Körper stecken kann. Im Dunkel richtet sich jemand auf, sagt etwas, der Husten lässt etwas nach, braucht aber noch lange, bis er ganz zur Ruhe kommt. Ohne das leiseste Zögern in der Stimme spricht der Bauer ein Gebet. Seine Stimme fließt wie
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