Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
wahrgenommen, als ob sie Augen auch auf dem Rücken hätte. Dann ist Jens vollständig entkleidet, vollkommen nackt, der große Mann, wie ihn seit vielen Jahren niemand gesehen hat, außer Salvör bei ihren verstohlenen Heimlichkeiten in der Schlafstube und dreimal in der Helle der Sommernächte. Kräftige Arme, mächtige Schenkel, breite, muskelbepackte Schultern, jetzt aber kraftlos wie bei einem Tattergreis. Sie helfen sich gegenseitig, ihn in die Baðstofa zu schaffen, die allerdings nicht so warm ist wie das Kochhaus. Der Hausherr erscheint wieder, und Jens, nackt und schutzlos, murmelt irgendwas. Die Kindergesichter beobachten alles von einem Bett aus, das jüngste von ihnen fängt an zu husten, erst zweimal kurz, als wolle es Auswurf im Hals lösen, und dann nimmt der Husten zu und wird zu einem solchen Bellen, dass das Kind nach Atem ringt.
Mama!, rufen die anderen, und die Frau ist schon unter Jens’ Arm weggeschlüpft, der wie ein Sack zu Boden gefallen wäre, wenn der Bauer nicht zugepackt hätte. Sie nimmt das Kind auf, seine Lippen in dem rot angelaufenen Gesicht sind ganz blau, legt es sich über die Schulter, flüstert beruhigend auf es ein und streichelt ihm den Rücken, der Husten bessert sich, es kann wieder atmen, das Leben ist geblieben. Die Frau legt das Kind behutsam zurück und wendet sich wieder den Besuchern zu; sechs Kinder- und zwei Hundeaugen verfolgen, wie Jens in das Bett gelegt wird, das doch das Ehebett der Eltern ist.
Du musst dich zu ihm legen, sagt sie zu dem Jungen.
Muss ich?, fragt er erschrocken zurück.
Er muss wieder warm werden. Es ist die einzige Möglichkeit, die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. Menschen sind schon an weniger gestorben.
Die Frau hält den Blick auf den Jungen gerichtet, als warte sie, dass er sich endlich in Bewegung setzen würde. Er sieht Jens an, der mit geschlossenen Augen unter der Decke zittert, sein Gesicht ist leichenblass. Dann beginnt der Junge sich auszuziehen, die Kälte hat schon zu viele in diesem Land auf dem Gewissen. Die Eheleute ziehen sich in das Kochhaus zurück, die Kinder und der Hund lassen keinen Blick von dem Jungen, das Jüngste hat wieder zu husten begonnen, seine Geschwister stehen schon auf, legen sich aber wieder, als der Husten nachlässt. Inzwischen ist der Junge ausgezogen bis auf die Unterhose, und die behält er an, die zieht er um keinen Preis aus, kommt nicht infrage. Er muss sich ganz dicht an Jens legen, und man kann nie wissen, was im Traum passiert, manche Träume haben deutliche Auswirkungen bei Männern. Stell dir nur die Beschämung vor, falls er so dicht an Jens gepresst von Ragnheiður träumen sollte wie in jener Nacht, in der er anschließend in den Keller schleichen musste, um unter todgeweihten Mäusen seine Unterhose auszuwaschen. Bei dem Gedanken wird ihm ganz flau und er schlüpft eilends zu Jens unter die Decke, widersteht sogar der Versuchung, die Bücher über dem Kopfende zu inspizieren. Es sind sicher an die dreißig Stück. Stattdessen schließt er den mächtigen Körper in seine Arme, hält die Luft an, als er fühlt, wie kalt er ist. Fast so, als würde man eine Leiche umarmen. Er rührt sich nicht und konzentriert sich ganz darauf, die Kälte aus dem massigen Leib zu vertreiben. Er ist so damit beschäftigt, dass er kaum das emsige Flüstern der Kinder vernimmt und den Stickhusten, der ein ums andere Mal das Jüngste umbringen will. Dunkel ist es nicht in dem Raum, aber auch nicht hell. Drei Tranlampen hängen unter dem Dach, so matt wie altersschwache Greise, die kurz vor dem Verlöschen stehen. Das winzige Fensterloch im Giebel ist dunkel von Schnee, wie überhaupt fast das ganze Haus unter einer dicken Schneedecke verschwunden ist. Doch je mehr Schnee sich auf das Haus legt, desto schwerer wird es für die Kälte hineinzudringen, ebenso für den gnadenlosen Frost und den eiskalten Hauch des Todes. In schneereichen Wintern sind diese Erdhäuser oft wärmer als die Holzhäuser im Ort, wo außer dem Quecksilber alles einfriert, selbst das Blut und die Triebe. Der Junge hält die Augen geschlossen und den groß gewachsenen Briefträger im Arm, ab und zu reibt er ihm den Brustkasten, denn darin sitzt das Herz, und du weißt, wie schlecht es Kälte verträgt. Nicht weit entfernt muht eine Kuh. Wahrscheinlich liegt der Stall gleich hinter dem Kochhaus. Ein langes Muhen. Wo ist das Licht, fragt die Kuh. Wo ist der Frühling? Gab es nicht irgendwann einmal frisches grünes Gras? Dann
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