Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
die Lippen. Er hielt die ganze Zeit den Blick gesenkt und die Hände in die Taschen vergraben. Ganz zerbrechlich wirkte er, wie er da so im Schatten lehnte. Manche Menschen sind verschlossene Austern, grau und unscheinbar auf der Außenseite, rasch hat man sich eine Meinung über sie gebildet, und dann findet sich möglicherweise ein glühender Kern in ihnen, den nur die wenigsten kennenlernen, manchmal niemand. Zehn Kilometer. Das bedeutet bei diesem Tempo und diesem Wetter drei Stunden, wenn nicht vier. Die Tasche hängt schwer an dem Jungen, Jens schleppt zwei und scheint sie gar nicht zu spüren, er marschiert unbeirrt voran. Der Junge muss sich alle Mühe geben, um nicht zurückzufallen; manchmal treibt er in seinen Gedanken dahin und verliert Jens dann schnell aus den Augen. Der Wind kommt schon wieder von Norden, weht richtiges Polarwetter über sie, fegt über die Berge, die zu ihrer Rechten aufragen, der Schnee weht von der Kante über die wenigen Höfe, die hier an der Küste bestehen können, über die beiden Männer, die sich vorwärtskämpfen, der führende schaut nach vorn, der hintere meist auf den Boden, er denkt an Othello und Hamlet , sagt sich einzelne Sätze aus beiden Stücken vor, es ist nicht verkehrt, die Lippen zu bewegen, dann frieren sie wenigstens nicht aneinander fest. Es gibt Worte, sagt er dem Schnee, die machen die Welt größer und erweitern den Horizont des Menschen. Dann aber schweifen seine Gedanken zu Ragnheiður. Zu ihren braunen Augen, noch mehr leider zu ihren Brüsten, die er einmal gut zu spüren bekam, aber längst nicht gut genug. Unwillkürlich bewegt er die Hände in den dicken Wollfäustlingen. Wie fasst man Brüste an, und was macht man mit ihnen? Gegenüber den großen Fragen fühlt man immer, wie klein man ist. Die Möglichkeiten, die den Worten innewohnen, hat der Junge komplett vergessen, als er plötzlich gegen Jens rempelt, der reglos verharrt und späht.
Ich sehe etwas, flüstert er.
Was?
Ich weiß es nicht. Aber es bewegt sich.
Was denn?
Ich weiß es doch nicht, verdammt noch mal! Einen Schatten oder so was Ähnliches. War gerade so zu sehen, dann war es wieder weg.
Beide halten sie Ausschau, neigen die Köpfe, um die Augen zu schützen und bessere Sicht zu haben, bohren den Blick zwischen den einzelnen Flocken hindurch ins Schneetreiben.
War es … war es etwas Lebendiges?, fragt der Junge stockend.
In Dreiteufelsnamen, stell dich nicht so kindisch an, wispert Jens zurück.
Ich kann doch nichts dafür, wenn manche Menschen wiedergehen.
Jens sagt nichts dazu, sie spähen, und das Meer stöhnt irgendwo hinter der Wand aus Schnee.
Da, sagt der Junge und zeigt auf einen Schemen, der sofort wieder verschwindet.
Hallo!, ruft Jens, und wenig später kommt eine Stimme langsam zurück: Hallooo!
Sie rühren sich nicht, außer Schnee können sie nichts erkennen; sie warten ab. Der Junge öffnet gerade den Mund, als die Stimme erneut ruft: Seid ihr lebendig oder tot?
Gute Frage, brummt der Junge, aber Jens ruft aufgebracht zurück: Teufel noch mal, natürlich sind wir lebendig!
Der Schemen kommt langsam näher und nimmt menschliche Gestalt an, weiß von Schnee, aber mit kältegerötetem Gesicht tritt er dicht vor sie, und seine Lippen sagen: Brauchst dich nicht aufzuregen, ich wollte bloß fragen. Wer seid ihr denn nun?
Die Post, antwortet Jens.
Ja, jetzt sehe ich auch die Taschen. Der Mann mustert sie und erkennt die Taschen unter dem Schnee. Ihr lauft nicht gerade auf dem üblichen Weg. Und wo ist Guðmundur? Der bringt doch sonst die Post.
Es ist der nächste Bauer an der Küste, Jóns und Marías Nachbar, drei Kilometer und einige tausend Tonnen Schnee von ihrem Hof entfernt. Jens zieht die Taschenflasche, und jeder bekommt seinen Schluck, auch der Junge. Der Bauer nimmt einen ausgiebigen Zug und ist trotzdem deprimiert, denn er hat einen seiner Schafställe verloren; darum ist er bei diesem fürchterlichen Wetter draußen unterwegs. Den Stall hat er letzten Sommer unter einem Felsüberhang angelegt, vermutlich war es keine gute Idee, das gibt er freimütig zu. Ein Stall für vierzig Schafe. Sie haben nicht zufällig irgendwo unter dem Schnee Blöken gehört?
Nein, sagt Jens und bietet dem Bauern die Flasche noch einmal an, denn es ist nicht einfach nur schlimm, seinen Schafstall zu verlieren, es ist geradezu demütigend.
Ich sollte mir den Hund von Jón ausleihen, sagt der Bauer niedergeschlagen und wird beinah umgeweht, als eine kräftige Bö den
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