Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
heraus, reckt sich und blinzelt.
Nein, nicht eine Flocke, sagt der Junge mit Triumph in der Stimme, und im gleichen Augenblick schwebt die erste Schneeflocke des Tages aus den Wolken herab. Ich sollte am besten die Klappe halten, murrt der Junge und verschwindet wieder im Gang.
Sie sind reisefertig.
Ihre Kleider sind trocken, die Frau hat sie am Kamin und am Herd getrocknet. María heißt sie wie die Mutter Gottes, die die Menschheit erlöst haben soll, obwohl sie gerade nicht sonderlich frei und erlöst wirkt. Sie reicht dem Jungen einen vergilbten Zettel.
Wir kaufen auf Rechnung im Handelsposten auf Sléttueyri, sagt sie, da gibt es manchmal Bücher. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal hinkomme. Könntest du für mich drei Bücher aussuchen, die dir gefallen? Am liebsten Gedichte.
Glaubst du, ich finde das Richtige?, fragt er.
Ich habe gesehen, wie du liest, antwortet sie und befeuchtet die Lippen mit der Zunge. Sie sind rissig aufgesprungen, als habe die Zeit sie mit grobem Sandpapier geschmirgelt. Sie lässt ihre braunen Augen nicht vom Gesicht des Jungen. Nimm am liebsten solche, sagt sie ein wenig heiser, die … anders sind, solche …, wo die Worte nicht stumm auf der Seite kleben, sondern aufschweben und uns Flügel verleihen, obwohl der Mensch doch eigentlich nicht fliegen kann.
Gut, María, sagt er, weil er ihren Namen aussprechen will, diesen bedeutungsvollen Namen. Der Bauer dagegen heißt Jón. Das ist nichts Besonderes und so häufig, dass es eigentlich schon seit Langem kein Name mehr ist. Dieser Jón ist allerdings glücklich, nicht weiter zu heißen, sein Name erregt keine Aufmerksamkeit, dafür ist er ewig dankbar. Als sie sich verabschieden, steht er mit den Händen in den Hosentaschen an die Wand gelehnt, so weit weg von der Tranlampe, wie es nur geht. Doch María zündet die Petroleumlampe an, will sie vielleicht mit Anstand und Würde verabschieden und auch den Kindern mehr Licht spenden, die voller Eifer über dem Blatt Papier hocken. Der Augenblick ist zu kostbar, um ihn im matten Schein einer Tranfunzel vorbeigehen zu lassen. Sie können sich nicht einigen, wofür sie das Blatt am besten verwenden wollen, ob sie Verszeilen und ein Gedicht darauf schreiben oder etwas malen sollen.
Vielleicht ein bisschen von allem, schlägt ihre Mutter vor. Die Jüngere will etwas antworten, aber ihr Husten fährt ihr einmal mehr ins Wort.
Jens legt eine Münze auf das Bett der Eheleute. Für Kost und Logis, sagt er, und die beiden schlagen die Augen nieder, es fällt schwer, Gäste nicht umsonst bewirten zu können.
Dann stehen sie draußen, aber da scheint der Junge etwas drinnen vergessen zu haben und geht noch einmal hinein. Die Kinder verstummen, als er eintritt. Sie sitzen noch immer über dem Blatt Papier, und er legt eine Ein-Kronen-Münze darauf. Gib sie nicht sinnlos aus, hatte Helga gesagt, und das tut er nicht.
IV
Sie sind aufgebrochen. Hinaus in den Schnee und den selbstverständlich wiedererwachten Sturm, der sich damit vergnügt, Schneewehen zu versetzen, die Landschaft zu verändern und die Luft um sie herum mit stiebendem Schnee zu füllen, es den Menschen schwer zu machen und den Tieren. Wo ist das Licht, wo ist der Frühling, gab es nicht irgendwann grünes Gras?
Der Junge dreht sich um, um noch einmal den Hof zu sehen, zum letzten Mal vielleicht, wer weiß, das Haus aus Grassoden, das fünf Leben birgt, nein, sechs, wenn wir den Hund mitzählen; na, dann sagen wir auch sieben, denn wofür sollte die Kuh büßen? Sieben Leben also. Wie mag es ihnen ergehen, wie wird das Leben mit all diesen dunkelbraunen Augen umspringen? Ob der Husten noch richtig schlimm wird? Mit solchen Fragen dreht er sich um, aber da ist der Hof schon verschwunden. Sie sind noch gar nicht weit gekommen, doch der stiebende Schnee verschluckt alles, der Hof ist gänzlich weg, und vielleicht sieht der Junge die Menschen dort nie wieder, den Hund nicht und nicht die Kuh, die er allerdings ohnehin nie gesehen hat; nur ihre bohrenden Fragen hat er vernommen.
Sie marschieren vorwärts und sehen nichts als Schnee. Der Junge noch den Rücken von Jens, der voranstapft, immer der Nase nach. Obwohl keine Sicht herrscht, fällt die Orientierung leicht, der Berg zur einen Seite, das Meer zur anderen, da gilt es, bloß die Mittellinie zu halten, nicht hangauf zu gehen und keine nassen Füße zu bekommen.
Zehn Kilometer, hat Jón gesagt und eine Weile dafür gebraucht, besonders das K wollte ihm nicht über
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