Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
nicht links und rechts, weiß vielleicht, wohin sie laufen, vielleicht auch nicht, aber solange sie in Bewegung bleiben, bleiben sie auch am Leben, und das ist doch schon was in dieser Hölle. Nur, wie steht es mit der Zeit?
Kommt der Abend, wird es Nacht und dann vielleicht sogar wieder Morgen?
Kommt die Zeit überhaupt voran in diesem dichten Schneetreiben? Kommt sie schneller voran als die beiden Männer, oder wankt sie genauso irrend herum, und wo werden sie dann noch enden? Natürlich hinter der Welt, denkt der Junge, da, wo sich der Sturm niemals legt, wo es nie wärmer wird und niemals die Sonne durchbricht. Zweimal gibt er der Versuchung nach, gegen den Durst Schnee zu schlucken, aber davon wird er nur noch durstiger, er lässt sich auch dazu hinreißen, mit sich selbst zu reden und Gedichte aufzusagen, denn im Leben eines jeden Menschen kommt der Zeitpunkt, an dem man nirgends mehr Orientierung findet außer in ein paar Gedichtzeilen, von denen einige in ihren Tiefen den eigentlichen Kern enthalten, das Verständnis, den Weg, die Versöhnung, und das obwohl der Dichter vielleicht selbst sein ganzes verpfuschtes Leben lang eine verkrachte Existenz war. Aber die Verszeilen zerbröseln auf seinen frostrissigen Lippen, zerkrümeln auch in seinem Kopf, er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, Andrea fällt ihm ein und wird zu Versen aus dem Verlorenen Paradies , die sich in den am Frühstückstisch wiederkäuend schmatzenden Mund Kolbeinns verwandeln, und der Käpt’n wird zum hüpfenden Raben auf dem Hof, auf dem der Junge, selbst kaum noch richtig im Leben, seine Tage zubrachte, nachdem sein Vater ertrunken war, und der Rabe verwandelt sich in das schwarze Haar Geirþrúðurs, das sich in einen feuchten Traum von Ragnheiður verwandelt, die zu einer sterbenden Maus wird.
Und Jens ist wieder verschwunden.
Komplett vom Sturm verschluckt, und der Junge findet sich allein wieder. Er hält an, hört auf zu kämpfen und steht still, zwingt sich, stehen zu bleiben, denn die Versuchung, sich einfach fallen zu lassen, ist verführerisch; er bleibt stehen und schließt die Augen. Ich mache jetzt die Augen zu, und wenn es mir vergönnt ist, am Leben zu bleiben, denkt er zuversichtlich, dann steht Jens vor mir, wenn ich sie wieder öffne. Er stellt sich breitbeinig hin, damit es ihn nicht umbläst, und es tut unglaublich gut, einmal die Augen geschlossen zu halten, es fühlt sich an, als hätte er überraschend einen Windschutz gefunden. Natürlich drischt der Sturm weiter auf ihn ein, aber es interessiert ihn nicht mehr. Der Sturm ist auf diese Weise weiter weg, die Bedrohung nicht mehr so unmittelbar. Es wäre zu leicht, gefährlich leicht, so einzuschlafen. Mach die Augen auf, befiehlt er sich selbst und tut es. Er öffnet die Augen, und da steht, höchstens eine Armlänge von ihm entfernt, eine Frau. Sie ist sehr groß und hält sich kerzengerade, trägt keine Kopfbedeckung, ihr dunkles Haar weht ihr vor das Gesicht mit den harten Zügen, tote Augen durchbohren seine Stirn und dringen in sein Denken ein. Dann dreht sie sich um und geht los, gegen den Wind, und er folgt ihr. Er folgt ihr, ohne nachzudenken. Er kann nicht anders und wagt auch nichts anderes. Er folgt einer Toten mit eiskalten Augen, er lässt seine eigenen lebendigen Augen nicht ein einziges Mal von der Frau, die mühelos durch den Sturm geht. Er wagt nicht einmal, zu blinzeln, weil er fürchtet, sie könne in diesem Augenblick verschwinden oder, schlimmer noch, sich umdrehen und ihn noch einmal ansehen und mit ihrem eiskalten Blick seine Schädelwand durchbohren. Aber es ist einfach nicht möglich, die Augen ständig geöffnet zu halten, ohne zu zwinkern, man kann bei diesem Wetter einfach nicht ununterbrochen nach vorn gucken, ohne einmal den Blick zu senken. Er zwinkert kurz mit den Lidern und schlägt für einen Moment die Augen nieder, und als er sie wieder hebt, ist die Frau mit der Gestalt von Jens verschmolzen, der vor ihm herstapft.
Es ist lange her, seit sie zuletzt in einen Schutz vor dem Sturm gekrochen sind, ihren Proviant aufessen und einigermaßen ungehindert Luft schöpfen konnten; wie lange in Stunden gerechnet, weiß der Junge natürlich nicht, aber er spürt am ganzen Körper, in jeder Faser, dass es sehr lange her ist. Darum ist er wirklich froh und dankbar, als Jens endlich an einem windgeschützten Fleckchen anhält, er könnte dem Postboten glatt um den Hals fallen, aber natürlich tut er das nicht, einen Mann wie Jens
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