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Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)

Titel: Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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aufpassen, das habe ich versprochen, und selbst wenn ich nicht mein Wort gegeben hätte, man lässt nicht einfach jemanden in solchem Wetter zurück.
    Du bist lediglich für mich zu schnell gegangen, dadurch bricht man doch kein Versprechen.
    Ich habe dich zurückgelassen, schon wieder. Das steht fest.
    Und warum?
    Jens gibt keine Antwort, sein Zorn hat ihn oben am Hang verlassen, und da war der Junge weg. Keine angenehme Entdeckung, seine Selbstachtung fiel auf einen Tiefpunkt. Es bestand kaum Aussicht, in einem solchen Schneesturm einen einzelnen Menschen wiederzufinden, es war eigentlich völlig aussichtslos. Aber es ist auch hoffnungslos, in diesem Land zu leben, und trotzdem haben wir tausend Jahre hier vor uns hin gekümmert. Jens holte sein Horn hervor, ging zurück und stieß ein paarmal hinein. Er ging davon aus, dass der Junge bald dem Wind und dem Gefälle nachgeben würde, er bezog das bei seiner Suche mit ein, und trotzdem kam es so weit, dass er aufgeben wollte, es hatte einfach keinen Sinn, er selbst wurde müde, verlor die Orientierung, seine eigenen Kräfte ließen schon spürbar nach, da sah er einen Schemen vor sich, vermutete, das könne der Junge sein, rief, lief darauf zu, fluchte, als der Schemen vor ihm zu fliehen schien, rannte schneller und wäre fast über den Jungen gefallen, der auf einmal im Schnee lag und schlief.
    Habe ich geschlafen?
    Wie ein Kind.
    Mist!
    Ja.
    Ein Schemen?, fragt der Junge und nimmt die gefrorenen Innereien, die Jens ihm hinhält. Wie sah er denn aus?
    Weiß nicht, sagt Jens.
    Was hatte er hier zu suchen?
    Man täuscht sich auch schon mal, sagt Jens, es war bloß der Sturm.
    Glaubst du, es war ein menschliches Wesen?
    Eine Sinnestäuschung, sage ich.
    Die dich zu mir geführt hat?
    Hätte ich es bloß nicht erwähnt!
    Scheint ein Mensch gewesen zu sein. Glaubst du, er war, nun ja, lebendig?
    Bist du fertig mit essen?
    Jens, ist es nicht verdammt unwahrscheinlich, dass es ein lebendes Wesen war?
    Tote laufen jedenfalls nicht in der Gegend herum. Ausgeschlossen.
    Ich weiß nicht, wo wir sind, sagt der Junge, aber ich weiß, dass wir uns weitab von allem Lebendigen befinden, irgendwo hoch oben in den Bergen, in einem scheußlichen Unwetter, das schon seit Tagen anhält, weshalb hier bestimmt niemand unterwegs ist, und trotzdem erscheint etwas vor deinen Augen und leitet dich, führt dich zu mir und verschwindet wieder. Das ist doch in jedem Fall komisch, ob es sich nun um ein lebendes Wesen oder um einen Toten handelt. Tote wollen aber selten ein Menschenleben retten, schon eher das Gegenteil, sie rufen die Lebenden zu sich. Was macht also dieser Schemen, ist er wirklich wieder verschwunden, oder siehst du ihn noch? Wie sieht er aus? Der Junge blickt um sich, nagt am Essen, Jens hockt auf den Fersen, etwas anderes ist auch kaum möglich in diesem schmalen Windschutz, der Wind wirft ihn vor und zurück wie das Meer einen Stein in der Brandung. Er schüttelt den Kopf.
    Heißt das Nein?, fragt der Junge.
    Wenn du so willst.
    Nein wozu genau?
    Musst du eigentlich über alles reden?
    Nein.
    Den Eindruck habe ich aber.
    Ich rede nicht viel, aber manchmal muss man die Dinge doch erörtern, oder nicht?
    Wozu?
    Nun, um zu einem Resultat zu kommen, nehme ich an. Zwei Menschen, die sich in einem Schneesturm völlig verlaufen haben, erscheint ein Gespenst, das ihnen das Leben retten will – findest du nicht, das ist Grund genug, sich einmal zu unterhalten?
    Es ist Zeit, weiterzugehen, entgegnet Jens, und dabei helfen einem die Wörter nicht.
    Wörter sind etwas Gutes, sagt der Junge beleidigt. Sie helfen uns zu überleben.
    Das habe ich noch nicht festgestellt. Iss jetzt auf, wir gehen weiter.
    Manche Wörter bringen uns das Glück.
    Warum musste ich unter allen Menschen ausgerechnet auf dich stoßen?
    Und manche bringen uns Unglück. Ganz ehrlich gesagt, glaube ich, Wörter sind das siebte Weltwunder.
    Man muss dich früher viel geprügelt haben.
    Wer andere schlägt, tut das immer nur, um seine eigene Unzulänglichkeit und Unfähigkeit zu überspielen.
    Jens: Jetzt gehen wir, außer du willst uns unter allen Umständen zu Tode quasseln.
    Nein, das will der Junge nicht. Aber er muss noch etwas loswerden, ehe sie weitermarschieren ins Ungewisse und in die tobenden Elemente.
    Was meinst du damit?
    Dass ich mal austreten muss.
    Austreten? Du musst scheißen. Scheiße bleibt Scheiße, daran ändern auch die Ausdrücke nichts.
    Aber dich selbst können sie ändern, erwidert der Junge

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