Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
umarmt man nicht, auf keinen Fall, unter keinen Umständen. Das geschützte Fleckchen ist allerdings so klein, dass sie, einander zugewandt, ganz dicht voreinanderstehen und sich in die Augen sehen müssen, wie ganz enge Freunde, es bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie nicht weiterhin Schnee ins Gesicht geweht bekommen wollen. Hat der Teufel noch etwas anderes auf dieser Welt erfunden als Geld, dann ist es das Schneefegen in den Bergen.
Du lebst ja noch, sagt Jens oder brummt etwas Ähnliches in seinen Bart, der dermaßen vereist ist, dass er Mühe hat, zu sprechen.
Ich denke schon, antwortet der Junge ebenso undeutlich wegen der vor Kälte ganz steifen Gesichtsmuskeln. Er unterdrückt ein Schauern und auch seinen peinlichen Gefühlsüberschwang und fragt: Glaubst du, sie führt uns ans Ende der Welt oder gleich in die Hölle? Er fragt vor allem, um sich zu beruhigen und die Scham zu überspielen, dass er Jens umarmen wollte.
Wie? Wer?, fragt Jens zurück, nachdem er sich eine Weile Eis aus dem Bart gepult hat.
Die Frau, der wir die ganze Zeit folgen.
Wovon redest du eigentlich?
Der Junge sieht dem Briefträger zu, wie er sich noch mehr Eisklumpen aus dem Bart zupft. Jens’ Gesichtsausdruck ist so verschlossen, dass er einen vollkommen abweisenden Eindruck macht, seine grauen Augen sind hart und eiskalt. Lieber hacke ich mir die Arme ab, als dieses Ungeheuer zu umarmen, denkt sich der Junge, und plötzlich kocht eine rebellische Wut in ihm hoch, völlig hemmungslos und unkontrolliert, aber auch befreiend und stärkend.
Du verfluchter Pisskopf!, sagt er.
Jens fuhrwerkt weiter mit seinem stumpfen Messer herum, das er hervorgeholt hat.
Hörst du nicht, was ich sage?
Jens, schabend: Was?
Der Junge versucht, die Stimme zu heben, obwohl es schwerfällt mit diesem tauben Gesicht und bei diesem Sturm, der alles schief klingen lässt. Du bist ein verfluchter Pisskopf, habe ich gesagt. Ein sturer Knochen, ein Holzklotz!
Ja, ja, macht Jens nur, als würde der Junge etwas ganz Selbstverständliches von sich geben. Einige Momente lang wallen Aufruhr und Hass noch in dem Jungen, seine Hände zucken, als wolle er zuschlagen, dann verebbt alles miteinander, unter diesen Umständen und an diesem Ort hassen zu wollen, ist ein Eingeständnis der eigenen Müdigkeit.
Ich habe von der Frau gesprochen, sagt er fast leise.
Welche Frau?, fragt der Postbote und schabt weiter mit dem Messer.
Na, die, der wir die ganze Zeit folgen, natürlich. Oder hast du noch jemand anderes gesehen? Es ist ja nicht gerade dicht bevölkert hier oben.
Die Frau, sagt Jens und lässt das Messer sinken. Eine Frau, wiederholt er, als versuche er sich an etwas zu erinnern.
Willst du etwa behaupten, du hättest sie nicht gesehen?, fragt der Junge. Den Schemen meine ich, der sich also als Frau herausgestellt hat.
Jens nimmt das Schaben an seinem Bart wieder auf. Der Schemen, so so. Schwierig, unter diesen Umständen zu unterscheiden, was man sieht und was man zu sehen glaubt.
Man sieht, was man sieht, beharrt der Junge.
Es gibt viel, was du noch nicht weißt, gibt Jens zurück.
Schon, gibt der Junge zu, aber ich habe gute Augen, und eine Frau in schlechten Kleidern und ohne Kopfbedeckung hier in diesem Höllenwetter übersieht man nicht so leicht.
Jemand, der müde, kalt, hungrig und kaputt ist, sieht so manches. Ich habe mich schon mit Leuten verirrt und sie mit Gewalt zurückhalten müssen, damit sie nicht in Sturm und Schnee hinein jemandem nachliefen, den sie zu sehen glaubten.
Stimmt, sagt der Junge, Tote, ich meine wiedergehende Gespenster, versuchen manchmal Lebende zu sich zu locken. Ich habe Geschichten und Berichte darüber gelesen.
Die einzigen Gespenster, die ich je gesehen habe, waren lebende Menschen, sagt Jens trocken.
Du hast sie also nicht gesehen?
Ich weiß nicht immer, was ich sehe.
Aber wir gehen schon seit geraumer Zeit hinter ihr her.
Davon weiß ich nichts, sagt Jens. Ich habe vorhin eine Art Schemen gesehen, das ist richtig, zwei- oder dreimal. Vielleicht war es ein Fels, das halte ich für das Wahrscheinlichste. Siehst du jetzt etwas?
Der Junge späht in den wirbelnden Schnee. Nein, jetzt nicht.
Na bitte.
Aber immer wieder zwischendurch, sagt der Junge. Zwar undeutlich, aber in diesem Wetter kann man sowieso nichts erkennen.
Sage ich doch.
Aber ich habe sie ganz deutlich gesehen, als ich dich verloren hatte.
Hast du mich schon wieder verloren?, fragt Jens.
Ich habe kurz die Augen geschlossen, und als
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