Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
ich sie wieder aufmachte, stand sie vor mir, nicht ganz so nah wie du jetzt, aber auch nicht weiter als eine Armlänge entfernt.
Du hast mich noch einmal aus den Augen verloren?, fragt Jens nach.
Wie? Na ja, ganz kurz. Und da stand sie plötzlich vor mir und hat mir ein Zeichen gegeben, jedenfalls glaube ich, dass sie das getan hat, und dann ging sie vor mir her. Ich bin ihr nach, und so habe ich dich gefunden. Hast du sie nicht gesehen?
In diesem Wetter hat das nichts zu bedeuten. Man kommt vollkommen durcheinander und irrt sich schon mal.
Ich habe sie gesehen, das war kein Irrtum, beharrt der Junge.
Wie du meinst.
Und sie sah aus, als wäre sie tot.
Wie du meinst.
Was tut eine tote Frau hier oben in den Bergen, was will sie von uns? Ich meine, seit wann helfen Tote denn den Lebenden? Ich habe sie gesehen, genau so, wie ich dich jetzt sehe. Sie hat die kältesten Augen, denen ich je begegnet bin, und ich habe schon in ziemlich viele Augen gesehen, ich habe in die gebrochenen Augen eines Toten geblickt, aber ihre waren viel kälter. Vielleicht ist sie der Tod in Person.
Gott, was kannst du reden!
Sie ducken sich dichter an den Windschutz, einen in Eis gepanzerten Felsen, und versuchen unbewusst, so viel Distanz wie möglich zwischen sich zu halten, aber da klatscht ihnen der Schnee ins Gesicht wie zuschlagende kalte Hände. Wenn sie in diesem Windschutz bleiben wollen, müssen sie wieder näher aneinanderrücken, als sie das eigentlich ertragen können, sie spüren die Atemfahne des anderen, der Junge sieht jede Ader im Gesicht des Briefträgers oberhalb des Barts, kleine, rote Äderchen, winzig, wie rote Bäche unter einer Eishaut. Es ist eklig, so dicht vor einem anderen Mann zu stehen. Ganz übel. Körperlich unangenehm. Sieht so aus, als müssten sie das Opfer bringen, und das tut weh und ärgert. Zwei Männer, die ein schadenfrohes Schicksal aneinandergekettet und auf eine unselige Reise geschickt hat. Ihr habt zwei schwierige Hochheiden zu überqueren, hat Helga gesagt, der Rest sind Passagen und Überfahrten mit dem Boot, da trägst du die Verantwortung, an Land vertraue dich Jens an. Klar! Diesem Mann soll er sich anvertrauen, der ihn mehrfach abschütteln wollte und ihn gerade anstarrt wie ein gereizter Stier. Der Junge kennt solche Männer nur zu gut, sie sind hart und unbeugsam, so hart, dass sie alles Weiche und Nachgiebige, alles Spielerische, alles Unbekümmerte ausschließen, so hart und unbeugsam, dass sie unbewusst jeden in ihrem Umkreis unterwerfen wollen. So hart, dass sie das Leben beschädigen. So hart, dass sie töten.
Ich scheiße auf deine Männlichkeit, ruft der Junge. Geirþrúður hatte ganz recht.
Glaubst du, dass wir am Ende der Welt angekommen sind, fragt Jens.
Wer neben dir steht, steht am Ende der Welt.
Was willst du damit sagen?
Wo zum Teufel sind wir?
Horch mal!
Horchen? Worauf denn, auf den Sturm und dein hohles Gerede?
Nun hör doch mal, sagt Jens. Was hörst du gerade?
Den beschissenen Sturm, was denn sonst?
Nein, sagt Jens, lausch mal in diese Richtung! Er zeigt etwa in die Richtung, von der der Junge meint, es müsse Norden sein.
Hölle und Ende der Welt, brummt er vor sich hin, lüpft die Mütze über einem Ohr und lauscht, neigt den Kopf noch mehr und lauscht wieder. Zuerst hört er nur den verdammten Wind und das Pfeifen der Schneekörner, aber als er schon die Mütze wieder über das kalt werdende Ohr ziehen will, vernimmt er etwas Entferntes dahinter, erst undeutlich wie eine unbestimmte Ahnung, dann wird es von dem Moment an stärker, in dem er es wahrnimmt, ein tiefes, dunkles Dröhnen. Rasch zieht er die Mütze wieder über die Ohren.
Das ist das Eismeer, sagt Jens.
Das Eismeer?
Du kannst es auch Weltende oder Tod nennen. Wörter haben keinen Einfluss auf das Meer.
Wir sind also vom Weg abgekommen, ruft der Junge, ganz gewaltig vom Weg abgekommen!
Sie biegen die Köpfe auseinander. Irgendwo da hinten donnert das Meer auf senkrechte Felswände.
Sollen wir nicht umkehren?, entfährt es dem Jungen, während sich in seiner Brust langsam ein Knoten zuzieht.
Natürlich, wenn du so lebensmüde bist, antwortet Jens.
Scheiße!
Hast du Angst?, fragt Jens.
Hölle, Tod und Teufel!
Es ist bloß das Meer, beruhigt Jens. Du bist doch schon auf See gewesen.
Der Junge schüttelt die Faust vor dem Gesicht des Postboten: Ich pfeife auf dein männliches Getue! Wer bei dem Geräusch keine Angst bekommt, ist einfach nicht normal. Wer keine Angst hat, bei
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