Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
und macht sich daran, das zu verrichten, was mit so vielen verschiedenen Ausdrücken benannt wird, aber egal, welches Wort man dafür auch benutzt, angenehm ist das bei dieser Scheißkälte in keinem Fall, bei diesem Sturm und den peitschenden Schneekörnern. Der Junge versucht, so wenig Haut wie möglich freizulegen, aber das klappt nicht recht, die Kleider sind steif vom Frost, die Finger ebenso, sie krümmen sich vor Kälte, sobald er die Handschuhe auszieht, er hält den Atem an, als er den Hintern entblößt und den kalten Wind spürt. Eine plötzliche Bö wirft ihn um, mit heruntergelassener Hose liegt er im Schnee, und Jens lacht. Der Junge rappelt sich wieder auf, stemmt fest die Füße ein, lehnt sich gegen den Wind und will sich beeilen, denn wenn der Wind nun plötzlich einmal nachlässt, wie er es manchmal tut, dann würde er rücklings umfallen, während ihm hinten noch was raushängt, und Jens würde sich kaputtlachen bis in die Hölle, aber hoffentlich nicht wieder zurück, denkt der Junge erbost und presst endlich alles aus sich heraus, groß und steinhart, dann zieht er so schnell wie möglich die Hose wieder hoch.
Wind ist durchsichtig, er ist lediglich Luft in Bewegung, Luft, die es eilig hat, ohne ein bestimmtes Ziel. Der Wind weht ohne ersichtliche Ursache. Darum ist es verdammt hart, in eine Richtung aufzubrechen, am Ende aber vor einem durchsichtigen Phänomen kapitulieren zu müssen, ein Ziel zu haben, aber der Ziellosigkeit zu unterliegen. Der Wind, jetzt mehr aus Westen kommend, drängt sie kaum merklich, aber beharrlich nach Norden ab, tief in die Berge. Einmal denkt der Junge, wir gehen doch nach Norden, nicht nach Nordwesten, er hat aber keine Lust, sich deswegen mit Jens anzulegen, er bringt die Energie nicht auf, ihm ist es gleich, in welche Richtung sie gehen, er ist zu erschöpft, um eine eigene Meinung zu haben, er tappt bloß hinter Jens her, setzt sein Vertrauen in diesen Mann, der Worte so wenig leiden kann. Und Jens weicht dem Wind aus, findet für sie einen leichteren Weg, obwohl hier überhaupt nichts leicht ist, sondern lediglich die Wahl zwischen schwierig und unpassierbar besteht. Er entscheidet sich für das Erstere, weil er dem Jungen mehr nicht zutraut, und auch er selbst nimmt die Dinge nicht mehr so wichtig, bestimmte Richtungen und Routen sind ihm schnurzegal geworden, es ist doch albern, sich auf einen Wettlauf mit einem Zeitplan einzulassen, demzufolge die Post irgendwo zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuliefern ist, es ist idiotisch, Pünktlichkeit und die Feindschaft eines einzelnen Mannes über den Erhalt des Lebens zu stellen. Worauf es ankommt, ist einzig und allein, weiterzugehen, wohin ist nebensächlich, nur lebend durchzukommen, das zählt, sie müssen eine Unterkunft erreichen und darin den Wahnsinn hier draußen überstehen, danach ist noch genug Zeit, die Post zuzustellen, ohne sein eigenes und das Leben des Jungen zu riskieren. Nach Hause kommen, wo Halla längst auf ihn wartet und ihren Vater dreißigmal am Tag löchert: Wann kommt Jens? Vorher muss er aber als Erstes Salvör aufsuchen und den entscheidenden Schritt machen, sagen, was zu sagen ist, irgendwann muss man schließlich die Zähne auseinanderkriegen, sich selbst und das Herz öffnen, sonst verliert man wahrscheinlich sein Leben, verwirkt sein Glück und stürzt sich selbst in Einsamkeit. Aber was soll er eigentlich genau sagen? Warum muss der Umgang mit Menschen so kompliziert sein, denkt er, stampft weiter, die Kälte greift an, natürlich haben sie sich gründlich verlaufen, aber das macht nichts. Manchmal glaubt er diesen Schemen wieder vor sich zu sehen und folgt ihm, selbst wenn er dafür ein wenig die Richtung ändern muss, er tut es fast, ohne nachzudenken, was macht das schon, wenn es sich um einen gestorbenen Menschen handelt, mit den lebenden kommt er nicht sonderlich gut zurecht, warum da nicht lieber auf die Toten setzen? Und der Schemen führt sie zu einem Unterschlupf. Einem guten Schutz vor dem Wind, dem besten der ganzen Wanderung. Es tut so gut, vorübergehend den Sturm und den peitschenden Schnee los zu sein, dass es sie geradezu peinlich rührt und sie sich gegenseitig ansehen, weiß und dick in Schnee gepackt. Jens kann den Kopf nicht mehr drehen, sein Bart ist an der Kleidung festgefroren und auch über dem Mund zusammengefroren. Sie schauen einander an und denken, was für ein prächtiger Kerl!
So ein alberner Quatsch, denkt Jens und macht sich daran, sich aus dem
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