Der Schmerz der Engel: Roman (German Edition)
dieser Sicht und bei diesem Wetter in einen Abgrund zu stürzen, ist behämmert und vernagelt. Ein Kerl mit weniger Vorstellungsvermögen als ein Wurm. Ich scheiß auf deine Männlichkeit, ich scheiße drauf! Jetzt verstehe ich, was die Frau des Pastors meinte, als sie gesagt hat, Männer sind verantwortungslos und Frauen und Kinder müssen die Folgen ausbaden. Sie meinte, diese Form von Männlichkeit ist nicht nur dumm, sondern sogar gefährlich, ihr denkt nur an euch, ihr wollt einen guten Eindruck machen, darauf kommt es euch an, Stärke zu zeigen, Mut, Furchtlosigkeit zu zeigen! Eine gute Figur zu machen, das ist euch wichtiger, als zu leben!
Jens hat sich aufgerichtet und überragt den Jungen: Männlichkeit bedeutet, etwas zu wagen, niemals aufzugeben und sich nie zu unterwerfen.
Manchmal sind Männer wie du einfach nur dumm, ihr habt nicht den Mut, etwas abzubrechen oder sein zu lassen, sagt der Junge. Mein Vater ist bei so einem Wetter ertrunken. Sie sind hinausgerudert, obwohl die Aussichten schlecht waren und die meisten anderen schön zu Hause geblieben sind. Pétur hat den Vormann gekannt. Ein richtiger Kerl, hat er gesagt. Der hatte vor nichts Angst, nie. Du hättest Péturs Augen sehen sollen, als er von ihm erzählt hat, wie sie geleuchtet haben, als er den Mut des Mannes beschrieb, der nicht einmal den Mut aufgebracht hat, bei schlechtem Wetter zu Hause zu bleiben und einer Gefahr aus dem Weg zu gehen. Sie sind alle sechs umgekommen. Und weißt du, wie viele Kinder ihre Väter verloren haben? Wie viele Familien wegen der Mannhaftigkeit dieses einen Vormanns aufgelöst und verteilt worden sind? Und weißt du, wie viele auf irgendeinem x-beliebigen Bauernhof aufwachsen mussten und nie wieder jemanden gesehen haben, der ihnen nahestand? Man stand allein in dieser beschissenen Welt, nur weil der Vormann ein so toller Kerl gewesen war. Eure verfluchte Männlichkeit erstickt alles, was gut und schön und empfindlich ist, sie killt das Leben selbst, ich pfeife auf diese verdammte Männlichkeit, ich mach einen ganzen Haufen drauf! Und jetzt drehe ich um, ich gehe keinen Schritt weiter.
Die letzten Worte brüllt der Junge, er schreit sie heraus, vermischt mit Spucke, die auf ihm und auf Jens landet, auf seiner Nase, und dort augenblicklich festfriert. Jens bleibt vollkommen regungslos stehen, lässt die vielen Worte ebenso auf sich niedergehen wie die Spucke und sagt dann seelenruhig: Du wirst nicht umkehren.
Und ob ich das tue, schreit der Junge so aufgebracht, dass er am liebsten auf den Postboten einschlagen will. Da, sagt er und weist hinaus in den Sturm und in die Richtung des dumpfen Dröhnens, da ist nichts weiter als der Tod, und ich habe mir vorgenommen, noch ein kleines Weilchen länger zu leben, ich habe nämlich noch was vor. Und jetzt sei so gut und lass mich los, soll dich doch der Teufel holen und auffressen!
Jens hat den Arm des Jungen gepackt. Der holt mich früher oder später sowieso, aber du stirbst, wenn du umkehrst.
Ob ich lebe oder sterbe, was interessiert es dich denn?, fragt der Junge.
Du stellst immer bloß Fragen. Bist du eigentlich immer so? Immer nur fragen, fragen. Glaubst du etwa, es gibt irgendwelche Antworten?
Lass mich los, ruft der Junge, sonst hau ich dir eine rein!
Das schaffst du nicht, gibt Jens zurück. Wir gehen weiter nach Norden, zum Ende der Welt, wenn du es so nennen willst. Ich habe nicht vor, zu sterben. Damit du Bescheid weißt, auch wenn es dich nichts angeht. Mein Vater ist alt und gebrechlich und kommt nicht mehr ohne mich zurecht. Halla auch nicht. Sie brauchen mich und würden beide als Gemeindearme irgendwohin weggegeben, wenn ich nicht zurückkomme. Sie würden bei Fremden untergebracht, getrennt voneinander. Du kennst Halla nicht, hast nicht die leiseste Ahnung. In ihrer Gegenwart wird alles schöner, auch wenn sie geistig behindert ist, in die Hose pinkelt und kackt, wenn man nicht auf sie achtgibt. Menschen wie sie werden mancherorts angebunden wie Hofhunde oder in einen Verschlag gesperrt, wo man ihnen Fressen vorwirft. Sie würde völlig verkommen, niemand würde ihre Haare bürsten. Papa bürstet sie jeden Morgen, und dabei schließt sie die Augen; das hast du nie mit angesehen. Wann kommt Jens wieder, würde sie die ersten Monate fragen, mehrmals am Tag, so oft, dass jemand es sattbekäme und nach ihr treten würde. Dabei darf man bei ihr nicht mal ein böses Gesicht machen, ohne dass sie schon zu weinen anfängt. Irgendwann würde sie nicht
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