Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
sehen. Fran muss mich sehen!
Ich fahre los, lasse mich von dem Instinkt des Raubtiers leiten.
Da vorne an der Ecke steht ein Mädchen. Vielleicht zwölf. Sie hat einen Kopfhörer auf, isoliert sich von der Welt. Ja, sie soll es sein. Ich rolle auf die Kreuzung zu, bemerke eine Bewegung, gebe Gas. Ein älterer Mann ist auf sie zugetreten, sie schaut auf, lächelt, umarmt ihn. Hand in Hand gehen sie weiter. Eindeutig der Vater. Verdammt, so geht das nicht.
Ich muss weiter raus, raus aus der Stadt, ich nehme die Bergische Landstraße, fahre Richtung Mettmann, die letzten Häuser bleiben zurück, ein paar Hundert Meter nichts als Felder links und rechts und dahinter der Waldrand.
Da ist sie. Sie schlendert über die Wiese, wiegt ihren Körper. Ein zierliches Persönchen. Ich halte an, steige aus. Sie bleibt mit dem Rücken zu mir stehen, wieder Kopfhörer, sie hört nichts außer der Musik, ich schaue mich um, niemand in der Nähe, ich greife sie von hinten, halte ihr den Mund zu, die Spritze jage ich ihr mit einem einzigen harten Stoß durch die Jacke in ihren Arm, sie zappelt fünf oder sechs lange Sekunden, dann sackt sie zusammen, ich verfrachte sie in den Kofferraum, mein Herz rast, wenn mich jemand beobachtet hat, bin ich erledigt.
Ich fahre vorschriftsmäßig, schwitze am ganzen Körper, ich muss schnell machen, muss mit ihr arbeiten, brauche sie. Niemand verfolgt mich. Keine Sirenen zerschneiden die Luft. Kurz vor Düsseldorf schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich habe mich fast ans Messer geliefert. Was ist los? Seit gestern ist alles aus den Fugen. Franziska! Sie hat mich aus der Bahn geworfen. Sie hat die Tür zum Käfig aufgestoßen. Es ist nicht der Plan, der mich verwirrt, der Plan ist genial, ist perfekt. Sie istschuld! Ich muss aufpassen. Muss wieder zur Ruhe kommen, sonst gefährde ich meinen Plan. Zurück auf meinen sicheren Weg. Die Käfigtür zuwerfen und ein schwereres Schloss anbringen. Vielleicht muss ich sie doch früher einladen, muss sie nehmen, muss die Kontrolle wieder an mich bringen. Sie darf mich nicht kontrollieren. Niemand darf mich kontrollieren. Meine rechte Hand zittert. Ich schlage sie gegen das Lenkrad, aber es hilft nichts. Ich muss etwas gegen meine Nerven tun. Das darf mir nicht wieder passieren.
Ich bin da, lade das Mädchen aus, ab in den Bunker, die Kleider runter, sie ist älter, als ich annahm, ihr Schamhaar ist schwarz und lockig, ihre Brüste größer, als ich gedacht habe, weil die weite Bluse sie verdeckt hat, aber sie erregt mich nicht sexuell. Ich schnalle sie fest. Meine Hand zittert noch immer. Dann schütte ich den Inhalt ihrer Tasche auf den Boden. Ein Personalausweis. Sie ist schon sechzehn, da habe ich mich gründlich verschätzt. Egal. Jung genug. Sie heißt Helena. Die schöne Helena. Wurde wegen ihr nicht eine blühende Stadt zerstört? Ja. Troja! Aber nur mit List und Tücke. Mich kann man nicht mit List fangen. Mich nicht. Meine Hand macht mich wahnsinnig.
Lippenstift, Puderdose, ein Notizbuch, Geldbörse, einige Tierfiguren, aber kein Handy. Ein Teenie ohne Handy? Ich schüttele den Kopf, nehme den ganzen Krempel und werfe ihn in den Müll. Sie braucht das nicht mehr.
Ich lege meine Maske an, wecke sie auf, sie kreischt wie am Spieß, ich halte mich nicht mit dem Vorspiel auf, haste ins Studio und nehme auf. Meine Hand wird ruhiger. Hervorragend. Ein Dauerton um die zehntausend Hertz. Ich verpasse ihr einen kleinen Stromstoß, erhöhe die Stromstärke langsam, sie arbeitet sich noch höher, was hält sie aus? Was ertragen das Herz und die Seele einer Sechzehnjährigen? Ich drehe aufvolle Kraft. Ihr Körper bäumt sich auf, alle Muskeln werden zu Stahl, ihr Schrei ist Musik in meinen Ohren und bricht alle Rekorde. Meine Hand hört auf zu zittern.
Liebe Helena, denke ich, wir werden noch ein paar schöne Tage miteinander verbringen, bevor du sanft ins ewige schmerzlose Vergessen gleitest und meine Post zu Franziska trägst.
*
»Da vorne links«, sagte Senior und fuchtelte mit dem Finger vor Frans Gesicht herum.
»Ich weiß, wo das ist«, entgegnete Fran. »Und wenn du nicht deine Finger aus meinem Gesicht nimmst, landen wir im Hafenbecken.«
Senior ließ seine Hand sinken, Fran bog links ab, dann noch einmal rechts, dann fuhr sie auf das Gelände der Spedition Keller.
Der Inhaber, Dietmar Keller, schlank, graue Schläfen, gewinnendes Lächeln, begrüßte sie und bat sie in sein Büro, das den Charme der Siebzigerjahre versprühte. Nur die
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