Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
der das Tatwerkzeug mit großer Geschwindigkeit über die Haut gezogen worden war. Deswegen Günthers Annahme, es sei in rasender Wut geschehen. Der Rücken des Messers lief dabei zwischen Daumen und Zeigefinger, die übrigen Finger stützten. Die Klinge drang nicht mit der Spitze in die Haut, sondern nur mit der Schneide. Es war schwierig, damit kontrolliert Muster in die Haut zu schneiden.
»Lieber Kollege Neusen«, sagte Fran. »Ich denke, ihr habt bei uns angefragt, weil ihr die Möglichkeit in Betracht zieht, dass es sich um rituelle Verstümmelungen handeln könnte.« Sie zögerte, stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie mit einem Schlag so etwas wie die Jordan Cavanaugh der deutschen Polizei wäre. Geld würde fließen, sie würde in Talk-Shows auftreten, auf der Straße würde man sie erkennen und nach Autogrammen fragen – eine beängstigende Vorstellung. Also entschied sie sich für die Wahrheit, auch wenn sie das vielleicht bereuen würde. »Ich halte das für äußerst unwahrscheinlich.«
Aus den Augenwinkeln sah Fran, dass sich ein feines Lächeln auf Brunos Gesicht ausbreitete.
»Mit viel Fantasie könnte ich ein Pentagramm erkennen oder ein Henkelkreuz«, fuhr sie fort, »aber das kann ich auch, wenn ich mir Wolken ansehe oder das achtlose Gekritzel auf einem Stück Papier. Ich stimme Günther zu. Purer Hass, der sich nach der Tötung darin äußert, dem Opfer weiter Schmerzen zufügen zu wollen, es zu entwerten, vollends zu vernichten – wie gesagt: Übertötung. Das heißt nicht, dass der Täter keinen satanischen Hintergrund haben kann . Ich kann nur kein rituelles Motiv in den Verletzungen erkennen, keine rituelle Ausprägung. Dafür sind die Muster nicht klar genug. Wie der Name schon sagt: Rituelle, also nach kultischem Brauch vollzogene Verstümmelungen, unterliegen klaren Gesetzenund Vorschriften, sonst sind sie unwirksam. Das hier war ein Gemetzel, ohne jede magische Wirkung.«
Günther meldete sich. »Und jetzt raus mit der Sprache, Kollege. War es das, was du wissen wolltest?«
Der geschundene Rücken verschwand, Neusens breites Grinsen füllte den Bildschirm wieder aus.
»So ist es. Wir haben einen Verdächtigen aus der satanischen Szene, der ein Motiv hat, kein Alibi, aber die Gelegenheit und ein entsprechendes Werkzeug. Es fehlen forensische Beweise. Kein Blut, keine DNA , nichts. Er beteuert seine Unschuld, und ich bin geneigt, ihm zu glauben, nachdem ich eure Theorien gehört habe.«
Fran winkte mit dem Zeigefinger. »Du solltest nicht zu voreilig schlussfolgern. Es kann sein, dass dein Satanist aus Wut gehandelt hat und er unbewusst einige seiner vertrauten Zeichen eingebaut hat. Wir haben viel zu wenig Material, um eine vernünftige Aussage zu treffen.« Fran überlegte einen Moment, rief sich die Linien ins Gedächtnis, die ein seelisch deformierter Mensch in den Rücken der Frau geschnitten hatte. Ein Pentagramm zwischen den Schulterblättern, ein umgedrehtes Kreuz oberhalb des Steißbeins vielleicht, vielleicht, vielleicht. Sie schüttelte den Kopf. »Aber wie gesagt, ich halte es für eher unwahrscheinlich.«
»Kann ich das schriftlich haben?«, fragte Neusen mit einem unschuldigen Gesicht.
Alle zuckten sichtbar zusammen.
»Das können wir nicht entscheiden«, sagte Fran und hielt den Atem an. »Da musst du mit unserem Chef reden. Und ich glaube nicht, dass Fellmis so eine Schnellschussexpertise freigibt. Was glaubst du, was los ist, wenn wir schiefliegen und es doch dein kleiner Teufelsanbeter war? Dann ist hier der echte Teufel los! Wenn du uns anforderst, sind wir zur Stelle.«
»Ups!«, sagte Neusen. »Logisch. Vergesst es. Ich nehme das auf meine Kappe und hoffe, dass wir richtigliegen. Vielen Dank auf jeden Fall, und wenn einer von euch mal nach Hamburg kommt, dann zeige ich euch gerne, dass es dort nicht nur die Reeperbahn gibt.«
Fran atmete wieder aus. »Das Angebot nehmen wir gerne an. Und halt uns auf dem Laufenden!«
Neusen winkte, dann verschwand sein Bild, die Verbindung war unterbrochen. Fran spürte etwas, das sie nicht einordnen konnte. Ein leichtes Ziehen in der Magengegend, kein Schmerz, nicht einmal unangenehm.
Sie schaute sich um. Niemand sagte etwas. Alle starrten auf das interaktive Whiteboard, auf dem noch vor einigen Minuten das Opfer eines furchtbaren Verbrechens zu sehen gewesen war, und Fran hatte das Gefühl, dass sich diese Bilder in die Oberfläche der Wand einbrennen müssten. Gleichzeitig war sie erleichtert, dass sie
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