Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
sich zur Regel gemacht, die Verkehrsvorschriften zu beachten, und das hieß bei Rot stehenbleiben, auch wenn die 712 an ihr vorbeizog. An der Kreuzung Südring/Aachener Straße verlor sie zwei Minuten und musste an ihre Grenzen gehen, um wieder aufzuholen. Zeitgleich kam sie mit der 712 am Wendekreis Hellriegelstraße an, winkte dem Fahrer zu, der ebenfalls freundlich grüßte, und fuhr weiter bis zum Deich.
Sie trug das Fahrrad in den Keller, nahm bis in den dritten Stock zwei Stufen auf einmal, grüßte Frau Kowalaczek, die sich mit ihren Einkaufstüten die Treppe hochquälte, aber auf Hilfe verzichtete, weil sie abnehmen wollte.
Fran atmete ein paar Mal tief durch, kramte den Schlüssel aus ihrem Rucksack, wollte ihn gerade ins Schloss stecken, als sie stutzte. Sie beugte sich zum Schließzylinder hinunter: Kratzspuren, die heute Morgen noch nicht da gewesen waren. Sie schreckte hoch, schaute sich um, aber es gab nichts zu sehen. Vielleicht hatte sie heute Morgen am Schloss rumgefummelt und die Kratzer hinterlassen? Nein, sie war sich sicher, da war heute Morgen nichts gewesen. Nahm das denn kein Ende? Mit einer schnellen Bewegung schloss sie auf, huschte in den Flur und drückte die Tür wieder zu. Sie legte den Rucksack auf das geölte Birkenparkett und lauschte angestrengt. Nichts. Sie inspizierte alle Zimmer, aber niemand war hier. Du bist paranoid, dachte sie. Die Sache ist erledigt, vorbei, Geschichte.
Sie legte Mozarts Requiem in den CD -Player, drehte die Lautstärke auf, stellte sich zwanzig Minuten unter die Dusche, machte sich einen Salat, zum Nachtisch gönnte sie sich einen Fruchtjoghurt, sie musste auf ihre Figur achten, das Kantinenessen schlug unheimlich schnell an. Der letzte Akkord des Requiems verklang, Fran schaute auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr zwölf. Es war schon wieder später geworden, als sie es gewollt hatte. Es begann zu dämmern, und mit dem schwindenden Licht verflog auch ihre gute Laune.
Würde sie anders leben, wenn hier jemand wäre, der sie erwartete? Sie musste kurz an Albert Neusen denken, ein wirklich sympathischer Kollege. Vielleicht sogar Kinder? Ihre Kinder und ein Mann, der nicht unbedingt der Erzeuger sein musste? Ein Ziehen fuhr ihr durch den Unterleib. Kinder? Um Gottes willen, nein. Das Ziehen wuchs sich zum Schmerz aus. »Verdammt«, flüsterte Fran. Nicht schon wieder, denk an etwas anderes, los, mach schon. Aber die Erinnerungen begannen sie mit Blut zu überschwemmen.
*
Ich muss mich beeilen. Der Stau hat mich viel Zeit gekostet. Friedel könnte wach werden, bevor ich bei ihm bin, und das möchte ich vermeiden. Obwohl ich das Mittel präzise dosiert habe, Körpergewicht, Alter und Konstitution berücksichtigt habe, weiß ich nie ganz genau, wann sie wieder aufwachen. Es gibt immer eine Grauzone, manchmal sind es zehn Minuten, einmal war es eine ganze Stunde, die mein Gast zu früh aufgewacht und fast wahnsinnig geworden war, ich habe einen ganzen Vormittag gebraucht, um ihn wieder hinzubekommen, damit er eine gute Leistung bringen konnte. Ich bin kein Anästhesiearzt und muss mich auf die Angaben meines Lieferanten verlassen, der mich bisher immer hervorragend beraten hat. Er ist zuverlässig und stellt keine Fragen. Zweifelsfrei hat er sich sein Geld redlich verdient. Und er ist sicher, da wir das Geschäft anonym abwickeln. Ich hinterlege in einem hohlen Stamm Geld, so wie früher, als wir noch Räuber und Gendarm gespielt haben, er nimmt das Geld und hinterlegt die Narkose- und Aufwachmittel. Die Mittel wirken hervorragend, bis jetzt ist mir noch keiner wegen der Betäubung abgegangen. Das wäre äußerst unangenehm, denn jeder Kandidatkostet viel Geld, Zeit und Energie, und meine Ressourcen sind nicht unbegrenzt.
Kristin stellt keine Fragen. Ich habe gesagt, ich bin wandern. Alles in allem bin ich wirklich ein Glückspilz. Kristin, meine Frau, und meine beiden Töchter Hella und Veronika lassen mir alle Freiheiten, die ich brauche. Sie haben ja auch keine Wahl, schließlich bin ich der Boss in der Familie und werde es immer sein. Die Starken müssen führen, die Schwachen gehorchen. Das ist sinnvoll.
Meinen Wagen lasse ich auf dem Parkplatz stehen, gut versteckt zwischen den anderen Spießerkisten, ich trage dieselbe Freizeituniform wie die anderen, niemand würde sich an mich erinnern. Bis zu meinem Refugium brauche ich bei mittlerem Jogging-Tempo etwa zwanzig Minuten. Wenn ich ankomme, bin ich schön warmgelaufen. Ich checke, ob jemand in der Nähe
Weitere Kostenlose Bücher