Der Schmetterlingsbaum
seinem eigenen zu machen.« Leider beginne ich erst jetzt, wenn spätnachts diese neuen Gedanken und Formulierungen zu mir sprechen, zu ahnen, was sie damit meinte.
Seit sehr langer Zeit stehen sie nun hier, diese Bücher, seitdem Mandy die Militärhochschule abgeschlossen hatte und in eine Welt hinaustrat, die so kurzlebig war, dass sie unmöglich ihre Bücher vom einen Einsatzort zum nächsten mitschleppen konnte. Es sind die üblichen Klassiker darunter, von denen selbst ich manche während des einen Englischkurses lesen musste, der eine Voraussetzung für meine Zwischenprüfung in Biochemie war – Die Mühle am Floss, Jane Eyre, Der Bürgermeister von Casterbridge . Aber sie hat auch viele Gedichtbände besessen, und das ist eine Welt, die mir bis jetzt völlig verschlossen war, obwohl ich zugeben muss, dass Mandy gelegentlich versuchte, mich in sie einzuführen. Ich begann mit Robert Frost, wie sie mir geraten hatte, weil er sowohl leicht verständlich also auch tiefgründig sei, vor allem für Menschen, die das Leben auf dem Bauernhof kennen oder bäuerlicher Herkunft sind. Die meisten Gedichtbände aus Mandys Besitz sind Taschenbücher, nur Frosts Werke sind gebundene Ausgaben, samt Schutzumschlag, und ich war überrascht, als ich auf dem Vorsatzblatt jedes Bandes nicht Mandys Namen las, sondern den meines Onkels. Aber dann fiel mir wieder ein, wie oft in seinen Geschichten von den Ururen auch von Literatur die Rede gewesen war – er hatte es dargestellt, als wären manche Vorfahren regelrecht von ihr befallen gewesen. Einer hieß zum Beispiel immer »der gewesene Leser«. Neulich abends las ich Frosts »Nach dem Apfelpflücken«, und drei Zeilen daraus schienen mir die perfekte Inschrift für das Grab meines Onkels, falls er denn eines hatte. Sie lauten:
Ich hab genug
Vom Apfelpflücken: ich bin ermattet
Von dieser großen Ernte, die ich selbst ersehnt
Einmal in diesem einen lang vergessenen Sommer oder einem anderen, ganz ähnlichen, als Teo mit einem Mal einer von uns geworden war, setzte sich mein Onkel in den Kopf, dass eine der vielen Methoden, wie der Junge Englisch lernen könnte, die – allerdings informelle – Einführung in den Square Dance sei. Keines von uns Kindern und gewiss kein zweiter Erwachsener konnte sich in der Begeisterung für solche bizarren Aktivitäten auch nur annähernd mit meinem Onkel messen. Aber weil wir ihn liebten, stellten wir uns alle pflichtbewusst um den tragbaren Plattenspieler auf, den er in den Hof hinausgeschleppt und mit mehreren Verlängerungskabeln ans Stromnetz im Haus angeschlossen hatte. Teo und ich mussten ein Paar bilden, und das hieß: uns an den Händen halten, was uns peinlich war; die anderen Paare waren Kath und Shane, Mandy und Peter, Paul und Don, was wiederum diesen peinlich war.
Weil der Nachmittag zu Ende ging, saßen die Mütter, wie wir zu sagen pflegten, auf der Veranda, blickten auf den See hinaus, rauchten und tranken Gin Tonics. Mein Onkel ließ sich selten eine Darbietung einfallen, bei der er kein Publikum wünschte, so auch diesmal. Ich weiß noch, wie er nach seiner Frau rief und sie von der Veranda herbeizitierte. »Komm rüber, Sadie!«, schrie er und wartete kurz, und als von ihr nichts kam, rief er noch einmal. »Jetzt komm schon, Sadie. Und du auch, Beth, kommt rüber zu uns.« Seine unbeachtete Stimme klang schon ein bisschen müde; dass die Frauen ihn hartnäckig ignorierten, ließ auch seinen Eifer ermatten.
Teos Mutter und der Mann, den wir als ihren Bruder kannten, standen auf der anderen Seite des Zauns am Rand einer Plantage und sahen zu. Sie trugen noch ihre grünen Baumwolloveralls und braunen Sonnenhüte, aber die Arbeit war für diesen Tag beendet. Wahrscheinlich war sie gekommen, um ihr Kind zum Abendessen zu holen, und staunte nicht schlecht über diese seltsame Paarbildung und den unverständlichen Sprechgesang zur Musik von der Schallplatte. Sie stand einfach da neben ihrem Bruder, unsicher lächelnd, hinter ihr die Bäume und Leitern. Teo blickte in ihre Richtung, brachte es aber wohl nicht übers Herz, diesem seltsamen Ritual, in das man ihn eingeführt hatte, zu entfliehen. In dem Moment kam meine Mutter um die Hausecke und trat an den Zaun, wo die Frau und ihr Bruder standen, und begrüßte sie mit einem stummen Nicken von der anderen Seite her. Der Bruder verschwand wieder zwischen den Bäumen. Das Zuschlagen einer Fliegengittertür verkündete den Rückzug meiner Tante ins Haus. Niemand sagte ein Wort.
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