Der Schmetterlingsbaum
und bunten Teller waren heiß umkämpft und wurden bei Überfällen auf ein Fort oder Baumhaus häufig geraubt. Äußerst begehrt war ein türkisblauer Teller, erinnere ich mich, und einmal, als er fest in meinem Besitz war und damit auf dem Weg ins Fort der Mädchen, deutete der Junge, der Teo hieß, wie ich inzwischen wusste, darauf und sagte: »Von zu Hause, Mexiko.« Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich ihn sprechen hörte, jedenfalls wüsste ich nicht, dass ich davor je seine Stimme gehört hätte. Bis dahin war er ein recht seltsamer und nicht unbedingt erfolgreicher Gehilfe der Jungs gewesen, oft war er ihnen einfach nur nachgelaufen, als hätte er Mühe, mit ihnen Schritt zu halten, in Wahrheit aber bremste er absichtlich, aus Rücksicht auf ihr Wissen um die Unterschiede zwischen ihnen und auch aus dem – wohlbegründeten – Verdacht heraus, dass sie eigentlich möglichst wenig mit ihm zu tun haben wollten. Es war mein Onkel, der ihn aus der Baracke der Arbeiter geholt und ihn in unsere Mitte gestellt hatte. Erklärungen gab es nicht. »Das ist Teo«, hatte er gesagt. »Er lernt Englisch. Spielt mit ihm.«
Das war so typisch mein Onkel. Es war ein leidenschaftlicher Pädagoge in ihm, der zumindest teilweise, vermute ich, in der Zeit unmittelbar nach seinem Highschool-Abschluss geboren worden war. Damals lebten meine Großeltern noch und hatten das alleinige Sagen auf der Farm, und er brauchte Arbeit für den Winter und unterrichtete ein oder zwei Schuljahre in einer der spärlich besuchten, schlecht ausgestatteten Einraumschulen, die es damals auf kleinen brachliegenden Wiesengrundstücken hier und dort im Bezirk noch gab. Die Erinnerung an diese kurze Episode in seinem Leben stimmte ihn sentimental, und in ebenjenem Sommer nahm er uns, Teo eingeschlossen, mit auf einen Streifzug zehn Meilen nach Norden. Ich glaube, er wäre eigentlich lieber allein gefahren; vielleicht hoffte er auf ein kurzes privates Zwiegespräch mit der Vergangenheit. Aber wir hatten uns an seine Fersen geheftet, als er mit großen Schritten auf den Laster zuging, und gefleht und gebettelt, bis er nachgab. Mandy und ich durften in die Fahrerkabine, die Jungs schickte er auf die Ladefläche, und dann fuhren wir zu einem weitgehend verlassenen Ort namens Red Cloud, wo ein wettergegerbtes leeres Schulhaus im Wind ächzte. Als wir alle drinnen waren, ging mein Onkel vor der geborstenen Tafel auf und ab wie ein Gespenst, nahm den Kreidestummel, der noch auf der schmalen Holzleiste lag, warf ihn wortlos in die Luft und fing ihn wieder auf. Teo beobachtete ihn, das weiß ich noch, mit unverhohlener Neugier in seinen braunen Augen, und zum ersten Mal fragte ich mich, wie die Schule dort unten in Mexiko war. Waren es große Ziegelgebäude mit zwei Klassenzimmern für jede Jahrgangsstufe, in jedem mexikanischen Viertel, oder musste dieser Junge jeden Tag mit einem gelben Bus zu einer dieser kleinen Dorfschulen fahren, wie meine Cousins sie besuchten? Vielleicht sah seine Schule aus wie die Baracke der Saisonarbeiter auf der Farm, provisorisch gestrichen, mit dünnen Wänden, windigen Fenstern, ohne Spielplatz. Nachdem mir der Gedanke gekommen war, seine Schule könnte keinen Spielplatz haben, verkniff ich mir die Frage, die mir auf der Zunge lag. Teo starrte weiter meinen Onkel an, und sein Blick folgte der auffliegenden, niederfallenden Kreide.
Meine Cousins waren damit beschäftigt, aus den Holzpulten, die eisengeschmiedete Seitenteile hatten und mich an die fußbetriebene Nähmaschine meiner Großmutter erinnerten, die gläsernen Tintenfässchen herauszufischen. Shane untersuchte sogar den Boden, um festzustellen, ob sie das Dreieck mit einem D darin hatten, das Markenzeichen der Dominion Glass Works, das sie als echt kanadische Ware auswies; wahrscheinlich wollte er ein paar mitnehmen, um seiner Mutter eine Freude zu machen. »Stell sie wieder zurück«, sagte mein Onkel schließlich. »Irgendwann wird irgendwer einsehen, was für ein Fehler es war, diese Schulen zu schließen, und dann muss alles wieder so sein, wie es war.« Selbst mit neun Jahren wusste ich, dass das lächerlich war, das Gebäude stand seit Jahrzehnten leer. Aber mein Onkel, so modern er sonst dachte, sosehr er sich für den Fortschritt interessierte, schien an Wiederauferstehungen solcher Art oft wirklich zu glauben.
Er trat an die Regale hinten im Raum, in denen die spärliche Schulbibliothek untergebracht war, und begann in den schimmligen Büchern zu
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