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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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kräftezermürbendes Dasein. Gleich nach dem Schlüpfen aus dem Ei beginnt eine Reihe von stürmischen und möglicherweise schmerzhaften Verwandlungen, vom Aufbrechen und Abstreifen der Larvenhaut, das dem Wachstum der Raupe Rechnung trägt, bis zu der mit einer letzten Häutung einhergehenden Verpuppung. Zwei Wochen später folgt dann das mühselige Schlüpfen des Falters, der sich auf lebensgefährliche Weise aus dem Gefängnis der Puppe befreit. Es beginnt die kurze, schöne Phase, in der sich der Schmetterling im Wind treiben lässt und Nektar trinkt, um sich auf die lange, anstrengende Wanderung vorzubereiten und anschließend in einen Winterschlaf zu verfallen. All die unvorstellbare Anstrengung, die unvorhersehbaren Risiken münden am Ende in die Paarung und bald danach in den Tod.
    Mein Onkel stand, sehr lange, wie mir schien, auf dem Rasen und hielt die von meiner Tante zerkratzte Platte schräg ins Licht, um den Schaden zu begutachten. Ich deckte unterdessen drinnen den Tisch und beobachtete ihn durchs Fenster. Weil er den Kopf gesenkt hielt, während er die Platte untersuchte, konnte ich sehen, dass ihm bei seinem letzten Frisörbesuch der Nacken rasiert worden war. Die Vorstellung, wie er im Frisörstuhl saß, das Kinn auf der Brust, völlig fügsam und wie ein Kind mit einem weiten weißen Lätzchen verhängt, und dazu die Geste, mit der er jetzt behutsam die Schallplatte in ihre Hülle schob und langsam den Deckel des Plattenspielers zuklappte, griffen mir tief ans Herz. Aber ich hätte damals nicht erklären können, woher diese plötzliche Betrübtheit kam.

I n letzter Zeit denke ich über Charisma nach – was macht es aus, was braucht es dafür? Ist es ein sinnliches Erleben? Hängt Ausstrahlung von visueller oder akustischer Außergewöhnlichkeit ab? Kann man sie lernen oder sich aneignen, oder ist sie von Anfang an in der Ausstattung eines Organismus enthalten? Und wie steht es mit den Schmetterlingen? Geheimnisvoll und anmutig, von überreichlicher Farbenpracht – dass sie charismatisch sind, kann niemand leugnen. Aber gilt das auch für die Larve oder die Puppe? Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war bei den Entomologen eine Theorie beliebt: Hätte man ein ausreichend starkes Mikroskop, so könnte man sehen, dass sämtliche außergewöhnlichen Eigenschaften des Schmetterlings in jedem Stadium im Organismus vorhanden seien, auch in der Raupe. Das wurde später widerlegt. Und andere Lebensformen, die vom Charismatischen angezogen werden – kommen sie als Räuber oder als Verehrer? Vielleicht wird jede Beute bis zu einem gewissen Grad verehrt; oder vielleicht haftet allem Angebeteten immer ein unbewusster Wunsch nach Vernichtung an. Wir sollten wohl über das Spirituelle reden, und über Anbetung. Es wäre ein interessantes Gesprächsthema, wie Ihre Gebete aussehen und weshalb ich gar nicht beten kann.
    Monarchfalter haben kaum natürliche Feinde, denn in ihrem Organismus sind Cardenolide enthalten, wirksame pflanzliche Gifte, wie sie zum Beispiel in den Seidenpflanzengewächsen vorkommen, von denen sie sich ernähren, und diese giftigen Substanzen teilen sie der Welt durch Flügelfärbung und -muster mit. Es kommt gar nicht so selten vor, dass ein Star und ein Monarchfalter einträchtig auf demselben Zweig sitzen. Diese Gabe – Abwehr durch Giftigkeit – ist so attraktiv, dass ein anderer Schmetterling, der Vizekönig, über die Jahrhunderte hinweg eine Mimikry mit dem Monarchfalter entwickelt hat, um seine Überlebenschancen zu erhöhen: Er sieht aus und riecht wie der Monarch. Aber alle Vizekönige – und sogar eine Handvoll Monarchfalter – werden ohne diese chemische Substanz geboren, und obwohl sie sich von ihren Geschwistern äußerlich in nichts unterscheiden, obwohl sie ebenso schön und charismatisch und immun sind gegen Häher, Stärlinge und Rotkardinäle, spüren sie instinktiv ihre Schwachstelle und wissen, dass sie töt- und essbar sind.
    Mein Onkel war wie einer dieser wenigen verletzlichen Monarchen, oder vielleicht noch spezifischer: wie sein Nachahmer, der Vizekönig. Die meisten von uns, die in seinem Gefolge dahinsegelten, sahen nur seine Farbe und seine Eleganz und hielten ihn deshalb fraglos für unzerstörbar. Seine Feinde, sofern er welche hatte, wären von seiner Erscheinung beeindruckt gewesen und hätten Respekt vor seinem farbenfrohen Territorium und seinen Leistungen gehabt. Seine Schutzlosigkeit, seine Hilflosigkeit im Fall eines Angriffs spüren konnte nur

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