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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Urquhart
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ersten Lehrern und Schülern. Als er dann zu seiner eigenen Amtszeit kam, verschob sich die Perspektive seiner Erzählung, im Mittelpunkt standen die Entscheidung für den Kauf und schließlich das Eintreffen dieses Globus. »Die Kinder«, schrieb er, »erhielten des Trubels halber und weil sie vom Gegenstand ihrer Begeisterung nicht abließen, einen unterrichtsfreien Tag. Ich schickte sie alle hinaus zum Spielen und ließ sie dann einzeln ins Klassenzimmer, wo sie jeweils fünf Minuten das neue Wunderwerk betrachten durften. Es war«, schrieb er, »als hätte dieses eine Objekt ihnen die Welt gebracht.«
    Draußen vor dem Fenster lagen die Wiesen und Felder, die ich immer als das angestammte Land meiner Vorfahren betrachtet hatte, die aber, wie ich inzwischen weiß, einst das Land eines Stammes gewesen waren, der einen berechtigteren Anspruch darauf erheben konnte; eines Stammes, den es schon lang nicht mehr gab und der nur zwei Wörter zurückgelassen hatte, Red Cloud : Den Namen hatten die späteren Ankömmlinge, die den Stamm vertrieben hatten, übernommen und anglisiert. In letzter Zeit war unter den Biologen hier viel von Spezies die Rede, die sich erst in jüngerer Zeit in der Gegend um die Großen Seen angesiedelt haben, Zebramuscheln zum Beispiel und eine besondere Unterart des Marienkäfers, der aus Mexiko stammt und den Experten zufolge »nicht hierhergehört und die Reste des ursprünglichen Ökosystems durcheinanderbringt«. Was gehört denn hierher, frage ich mich dann. Wir etwa?
    »Hier.« Mein Onkel klappte das Buch zu und gab es dem Jungen. »Behalt es, nimm es mit heim.« Mir – und vielleicht auch Teo – war unklar, ob er die Unterkunft der Saisonarbeiter auf der Farm meinte oder Teos Heimat; in meiner Vorstellung allerdings waren die Baracken und die mexikanischen Schulen inzwischen schon miteinander verschmolzen, und ich dachte, es sei vielleicht als Spende für ein Klassenzimmer gemeint, in dem es gar keine Bücher gab.
    Ich blickte durchs Fenster in den Augustnachmittag und sah die Jungs durch eine Wiese rennen, auf der Rudbeckien und Wilde Möhren wuchsen, Kornblumen und andere Wildblumen, denen die Siedler anschauliche Namen gegeben hatten: Braunäugige Susanne, Königin-Annen-Spitze, Junggesellenknöpfe … Sie galoppierten durch hohes Gras auf den fernen Friedhof und den Horizont zu, der in diesem flachen Land immer ein so beherrschendes Element ist. Wie merkwürdig, dass mir die Szene jetzt so deutlich vor Augen steht – die verschiedenen Blumen, die gestreiften T-Shirts meiner Vettern … Die damalige Zeit erscheint mir oft so fern, dass ich sie gar nicht mehr heraufbeschwören kann. Manchmal ist meine einzige Verbindung mit der Vergangenheit die mit zarten Linien gezeichnete Landkarte auf dem Flügel eines Monarchfalters. Dabei hätte ich damals keinen Schmetterlingsflügel je so genau betrachtet, um zu erkennen, dass er einer Landkarte ähnelte.
    »Aber alles bleiben«, erinnerte Teo, dem das Englische noch stockend von der Zunge ging, meinen Onkel.
    »Alles sollte bleiben«, sagte mein Onkel, das Modalverb betonend. »Aber es bleibt nicht.«

S eitdem Mandy tot ist, habe ich, wie ich schon sagte, die Bücher zu lesen begonnen, die sie im Haus zurückgelassen hat. Schade, dass ich nicht früher damit angefangen habe; vielleicht hätte ich sie dann besser gekannt, besser verstanden. Vielleicht wäre mir ihre Unschlüssigkeit verständlicher geworden, auch diese Gebrechlichkeit des Willens, die mit bestimmten Erscheinungsformen der Liebe einhergeht, und die rätselhafte Zähigkeit einer so komplizierten Leidenschaft, wie sie bei Mandy offenbar war. Hätte ich wenigstens einen Band ihrer Liebesgedichte gelesen, wäre ihre Beziehung, ihre Liebe womöglich ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit gerückt, und vielleicht hätte ich begriffen, dass manche Liebende das Bedürfnis haben, an die verworrenen Gefühle, den emotionalen Aufruhr zu erinnern. Allerdings stand bei ihr die Sehnsucht danach, diese Beziehung zu analysieren, ihr gewissermaßen eine Stimme zu geben, Seite an Seite neben dem Wunsch, das Geheimnis zu bewahren, das sie umgab. Verstehen Sie, ich hatte immer das Gefühl, als hätte sie es als Verrat empfunden, wenn sie nur den Namen des Geliebten ausgesprochen hätte, egal, unter welchen Umständen. »In Gedichten wird der geliebte Mensch selten genannt«, sagte sie einmal zu mir, »und diese Diskretion gibt dem Leser die Möglichkeit, sich davon anrühren zu lassen, das Gefühl zu

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