Der Schmetterlingsbaum
blättern. Teo folgte ihm und blieb in seiner Nähe, während wir Übrigen die Pultdeckel aufklappten und wieder fallen ließen und die in die lackierte Eiche eingravierten Initialen und Namen entzifferten.
Durch das Fenster im Westen sah man weit in der Ferne den Friedhof von Red Cloud, praktisch unsichtbar, solange man nicht wusste, dass er da war; hier und dort leuchtete ein hoher Grabstein weiß aus einer kleinen Pappelgruppe. »Cholera«, sagte mein Onkel als Erklärung für die Existenz des Friedhofs zwischen kleinen Wäldern, weitab vom Dorf, als es noch ein Dorf gewesen war. »Eine Epidemie«, fügte er hinzu. Die Jungs waren nun nicht mehr zu bremsen; Epidemien machten diesen Friedhof natürlich viel interessanter als alle Friedhöfe, die wir je gesehen hatten. Sie rannten stracks durch die Tür und ließen Mandy, Kath und mich mit dem Onkel zurück. Teo zögerte, sah zum Fenster hinaus, bis er schließlich, wahrscheinlich aus dem Bedürfnis heraus, sich anzupassen, ebenfalls aufstand und zu den anderen hinauslief, die vom Fund eines Kuhschädels im hohen Gras unweit der offenen Tür kurzfristig abgelenkt waren.
Ich sah, wie sich Teo über die Knochen beugte, mit geheucheltem Interesse, weil er dazugehören wollte. Die anderen ignorierten ihn, so gut es ging, und bildeten eigens einen Kreis, in den er schwer eindringen konnte. Er machte ein paar zögernde Schritte zum Haus zurück, und diese eine Rückzugsbewegung löste bei Don, dem Ältesten, etwas aus. Te-oh , begann er mit einer Parodie des Harry-Belafonte-Songs, der ein paar Jahre früher populär gewesen war und den mein Onkel manchmal auf Partys sang. Te-e-e-oh, Daylight come and I wanna go ho-ome . Auf der Stelle fielen die anderen ein. Te-oh , skandierten sie, Te-e-e-oh .
Ich spürte eine leise Panik in mir aufsteigen und blickte zu meinem Onkel hin, weil ich erwartete, dass er dazwischenging oder wenigstens irgendwie reagierte. Er aber hatte ein Erdkundebuch in der Hand und im Gesicht dieses eigenartig schiefe Blinzeln, das er manchmal hatte, wenn ihn etwas derart fesselte, dass er uns nicht mehr wahrnahm, und es war klar, dass er nicht mitbekam, was draußen passierte. Teo wiederum stieg langsam die drei halb eingebrochenen Stufen hinauf, kam ins Klassenzimmer zurück und verzog sich dann unauffällig zur anderen Seite der offenen Tür, wo sie ihn nicht mehr sehen konnten. Er sah mich an, wahrscheinlich weil ich ihn beobachtete. »Nicht mein Land«, sagte er, »das Lied.«
Das war, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, das zweite Mal, dass ich seine Stimme hörte.
In dem Moment hob mein Onkel den Kopf und ging, das Buch in den Händen, auf den Jungen zu. »Aber schau, das ist dein Land«, sagte er und zeigte ihm die Landkarte von Mexiko, die er betrachtet hatte. Dann führte er den Jungen zu einem verstaubten Globus auf einem ramponierten Tisch im hinteren Teil des Zimmers. »Das da auch«, sagte er und deutete auf Mexiko, »und hier bist du jetzt.« Von meinem Platz aus sah ich den Globus nicht genau, wusste aber, dass er ihn weitergedreht hatte und die Kette der Großen Seen und die James Bay betrachtete, diese Bucht, die wie eine Faust vom Norden herabstößt. Falls Teo bereits Erfahrung mit Landkarten hatte, ließ er sich nichts davon anmerken, sondern zeigte sich interessiert und erfreut, dass mein Onkel sich mit ihm beschäftigte, und sonnte sich in der Wärme seiner Aufmerksamkeit. Er setzte den Globus in Bewegung, der sich schwankend auf seinem alten Fuß drehte. Offenbar sehnte sich auch Teo nach der Anerkennung meines Onkels.
Zu diesem Globus, den Teo mit seinen kleinen braunen Fingern anschob, sollte ich noch was sagen. Als ich unlängst in dem alten Haus hier einen Eckschrank ausräumte, stieß ich auf ein Klassenbuch, das aus der Red Cloud School stammte, und las ein bisschen darin, bevor ich mir mein Abendessen machte. Meiner Erinnerung nach hatte mein Onkel von unserem Ausflug in die Schule nichts mitgenommen; er muss also später, als er eingesehen hatte, dass das kleine Gebäude nicht mehr zu retten war, weil niemand je wieder zurückkäme, noch einmal dort gewesen sein, um es zu holen. Ein Mr Quinn, der damalige Lehrer, hatte das Klassenbuch um 1900 begonnen. Im Herzen war er wohl ein Chronist, denn er hatte detailliert den Werdegang der Schule seit ihren Anfängen um 1840 festgehalten, beginnend mit der Beschaffung von Geld für den Bau des Schulhauses über die ehrenamtliche Arbeit und die Treuhänder bis hin zu den
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