Der Schmetterlingsbaum
jemand, der ihm sehr, sehr nahestand. Nur jemand, der Tausende Nächte neben ihm geschlafen hatte, konnte den Geruch seiner Schwäche wahrnehmen. Durchaus möglich, dass kein verborgenes Gift in ihm war – ein Teil von mir möchte das immer noch glauben. An seinem Charme mag nichts Manipulatives gewesen sein.
Aber charismatisch war er wirklich. Wir alle folgten ihm und verehrten ihn. Wo immer er hinging, liefen wir ihm nach, erwarteten ein Abenteuer, wollten in seiner Nähe sein. Und doch glaube ich, dass ihm der Zauber, der von ihm ausging, nicht angeboren war; vielmehr war er eine Kraft, die er im Lauf des Erwachsenwerdens entwickelt hatte. Das war der leuchtend bunte Schild, den er benutzte, um andere in seinen Bann zu ziehen, um sie im Auge zu behalten und sich vor der Vernichtung zu schützen, die er sich immer vorstellen konnte. Aber Entwicklung, hat sie einmal eingesetzt, ist ein natürliches Phänomen und kaum willentlich herbeizuführen. Es ist möglich, dass ihm sein Magnetismus im Lauf der Zeit beschwerlich wurde, aber er konnte die Last nicht abwerfen, selbst wenn er in Gedanken anderswo war, selbst wenn er, wie ich schon sagte, hinter seinem grauen Vorhang verschwand und für niemanden ansprechbar war.
Als ich das erste Mal zum Golden Field fuhr, um meine Mutter zu besuchen, erzählte sie mir, wie mein Onkel als Kind gewesen war, wie schüchtern und schweigsam, und wie er aus seiner Geistesabwesenheit und Verschlossenheit ausgebrochen war und sich zu etwas Prächtigerem und Präziserem fortentwickelt, sich diesen glitzernden Schild geschmiedet hatte.
Ich sah mir sein Bild auf dem Tisch an, sein Foto und die anderer Menschen, die meine Mutter um sich haben wollte. Die liebreizende Mandy in ihrer Paradeuniform – rotes Kammgarn mit weißen Litzen, mit Ärmelaufschlägen und Goldknöpfen, die weiß behandschuhten Hände auf dem Griff eines prächtigen Schwertes ruhend –, sie stellte das Foto von meiner Abschlussfeier und die Bilder ihrer Brüder weit in den Schatten. Strahlend vor Zielstrebigkeit und Selbstvertrauen – jedenfalls sah es so aus. Das Foto meines Onkels war weniger groß, und er selbst wirkte kleiner und dünner, als ich ihn in Erinnerung habe.
»So ein scheuer Junge, so schüchtern.« Das sagte meine Mutter, ohne ihn beim Namen zu nennen, als wartete sie ab, ob ich sie aufforderte, damit aufzuhören. Als ich nichts sagte, lehnte sie sich in die Kissen zurück, mit denen sie ihren Lehnstuhl aufgepolstert hatte, und fügte hinzu: »Wir sind ja jeden Sommer über den See zu Sadies Farm gefahren, das weißt du, oder?«
Das wusste ich allerdings. Als meine Mutter Kind war, ließ ihr Vater gegen Ende des Sommers, wenn die ersten Obsternten eingefahren, die Äpfel aber noch nicht ganz reif waren, seinen Hof ein, zwei Wochen lang in der Obhut von bezahlten Helfern zurück. Zusammen mit meinen Großeltern wurden auch meine Mutter und ihre älteren Brüder drüben auf der anderen Seite, in Erie County, Ohio, von den amerikanischen Verwandten erwartet: Man bemühte sich, die Verbindung zu einer der zwar abgezweigten, aber liebevoll der Scholle verbundenen Linien der Familie aufrechtzuerhalten.
»Großonkel Johns Farm«, korrigierte ich, denn der war ja der eigentliche Besitzer gewesen. Für mich war die Sadie aus dieser weit zurückliegenden Zeit einfach ein Kind in einem Durchgangsstadium, auf dem Weg zu der erwachsenen Frau, die ich kannte – meine Tante: fest verwurzelt auf unserer Seite des Sees.
Ich kannte auch die Geschichte dieser einen Gabelung: Natürlich stammten alle Informationen von meinem Onkel. Sie war das Ergebnis zweier sehr unterschiedlicher, aber in gleicher Weise folgenreicher Reaktionen auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. 1786 gelangte einer der Gebrüder Butler, Amos hieß er, nach zehnjährigem Beten und Sinnieren zu der Einsicht, er müsse der britischen Monarchie die Treue halten, unter der sich einst, vor vielen, vielen Jahren, die Butlers in Irland begründet hatten. (Übrigens habe ich nach vielen Recherchen herausgefunden, dass Butler’s Court, dieser Familiensitz, der in den Geschichten meines Onkels häufig vorkam, ein rein fiktiver Ort ist.) Amos scharte also seine sechsköpfige Familie um sich und machte sich auf in die britische Kolonie Oberkanada, die zu seinem Glück nur eine zweitägige Reise mit Pferd und Wagen und eine kurze Bootsfahrt über den Eriesee entfernt war. Er hatte in der Nähe von Leamington in Essex County Land erhalten, und
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