Der Schmetterlingsbaum
ist der Diktator in diesem kleinen brutalen Staat, seine Verordnungen bestimmen alles. Ich glaube nicht, dass ich seit jenem Morgen im Spätsommer je wieder auf so einschneidende Weise geweint habe, nicht einmal um Mandy, meine Gefährtin in frühem Leid.
Gegen sechs Uhr morgens war die Polizei gekommen, hatte ihre Mitteilung gemacht und war wieder gefahren. Der Wagen, sagten die beiden Beamten – der Wagen mit Teo darin –, sei durch das betonierte Geländer der Überführung über den Highway gebrochen und kopfüber auf die asphaltierte Straße darunter gefallen. Sie nahmen Dolores mit, als sie wieder fuhren. Brachten sie in das Krankenhaus, in das die Ambulanz ihn eingeliefert hatte, damit sie ihr einziges Kind noch ein letztes Mal sehen konnte. Und meine Tante wartete jetzt am Küchenfenster auf Dolores’ Rückkehr, doch wie sie ihr unter diesen Umständen entgegentreten konnte, überstieg meine Vorstellungskraft. Aber Dolores entgegentreten würde sie auf jeden Fall, und sie hatte ja auch schon alle praktischen Vorkehrungen für ihre Rückkehr nach Mexiko getroffen: Am Flughafen waren zwei Tickets hinterlegt, eines für Dolores, das andere für ihren Bruder. Die Maßnahmen für die Überführung der Leiche, die Anrufe, die Diskussionen mit Amtspersonen wurden immer wieder von den erhitzten Fragen unterbrochen, die sie ihrem stummen Ehemann hinschleuderte und die unbeantwortet blieben.
In den Obstplantagen standen lauter leere Leitern: Die gesamte Ernte war zum Erliegen gekommen. Kein einziger Mexikaner hatte an diesem Morgen die Baracke verlassen, bis auf Dolores natürlich und ihren Bruder, der sie zum Streifenwagen begleitet und dann neben ihr auf dem Rücksitz gesessen hatte, seinen massigen Arm um ihre Schultern gelegt. Wie der Streifenwagen davonfuhr, weiß ich nicht mehr, aber eines weiß ich: dass mir in dem Moment zum ersten Mal der Gedanke kam, dass der Mann, der immer Dolores’ Bruder genannt wurde, auch Teos Onkel war. All die Jahre hatte auch er einen Onkel gehabt. Dieser eine Gedanke immerhin drang durch die Mauer aus Schmerz in mir.
Von den Tagen nach dem Unfall sind große Zeitabschnitte vollständig aus meinem Gedächtnis verschwunden, aber eine klare visuelle Erinnerung habe ich daran, wie ich mit Mandy im Auto saß. Die älteren Ahorne hatten sich zu verfärben begonnen, und ihre bunten Blätter glänzten vom Regen. Hin und wieder schwebte ein Blatt durch die Luft und heftete sich an die Windschutzscheibe wie ein aus der Luft abgeworfenes feindliches Propagandaflugblatt. Die Monarchfalter waren nirgends zu sehen, sie hatten wohl schon, unbemerkt inmitten dieser menschlichen Tragödie, mit ihrer Wanderung begonnen. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen erreicht nie das Südufer des Sees, geschweige denn ihr endgültiges Ziel. Keiner von ihnen, das weiß ich inzwischen, kommt je wieder zurück.
Seltsamerweise dachte ich an das »Grab der kleinen Nellie« und daran, dass Teo nie den Witz begriffen hatte, wenn uns die Erwachsenen ausgerechnet damit aus ihrem Arbeitsalltag verbannten. Sie ist komisch gestorben? Nun wusste ich, dass niemand je auf witzige Weise stirbt, schon gar nicht ein Kind. Der arme alte Reverend Thomas Sanderson muss dieses schlechte Gedicht im Zustand haltloser Trauer verfasst haben. Dass die so sorgfältig gewählte letzte Ruhestätte seines Kindes in nicht einmal einem Jahrhundert verlorengegangen ist, macht die Sache nur noch tragischer. Ich dachte an die tote Nellie. Ich wusste, dass niemand ein Gedicht für Teo schreiben würde.
Mandy wischte sich mit ihrem Blusenärmel ihr nasses Gesicht. »Die mexikanische Hure«, sagte sie mit den Worten ihrer Mutter.
»Nicht«, sagte ich; es entfuhr mir aus tiefstem Inneren.
»Sie hat es verdient, dass ihr Sohn tot ist.« Mandys Stimme war kalt, tonlos.
Ich hörte zu weinen auf und starrte meine Cousine lange an. Auf einmal lief alles in Zeitlupe, und ich spürte, wie langsam, langsam der Wunsch, sie zu schlagen, in mir heranreifte. Aber ich tat es nicht; stattdessen legte ich die Hand an den metallenen Türgriff, zog an und trat mit dem Fuß die Wagentür auf, knallte sie hinter mir zu und ging davon, zum Seeufer.
Dort schleuderte ich alles in den See, was mir in die Hände geriet, Steine, Treibholz, zwei Liegestühle, eine Zeitschrift, die Mandy tags zuvor gelesen und im Regen hatte liegen lassen, eine Plastikflasche mit Sonnenmilch. Ich hätte auch gern das Haus und die Wirtschaftsgebäude in den See geschmissen, und ein
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